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Das Urheberrecht für diese Artikel liegt bei Peter W. Richter. Detaillierte Langfassungen sind bei richter-pehlitz@freenet.de erhältlich.
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2. Tatsächlich ist das Phänomen der Menschwürde in der Realität schwer dingfest zu machen. Was noch am konkretesten ist, ist ein bestimmtes Verhalten älterer und/oder arrivierter Menschen, das durch Ernsthaftigkeit und Gemessenheit gekennzeichnet ist. Das ist jedoch nur zum kleinsten Teil das, was das Gesetz meint. Aber was dann? Man könnte auch noch eine gewisse Abgeklärtheit und charakterliche Festigkeit anführen. „Alles kann man uns rauben, aber die Würde, die können wir uns nur selbst nehmen“, heißt es. Doch ist es das, was allen Menschen zukommt und was unantastbar ist?
3. Was heißt überhaupt „unantastbar“, ins Deutsche übersetzt? Die Würde, falls es sie gibt, wird doch überall angetastet – in Kriegen, Unterdrückung, Ausbeutung, Ungleichbehandlung, mangelnder Hilfeleistung. Heißt es nun: Die Würde „kann“ nicht angetastet werden? Oder: „darf“ nicht angetastet werden? Die Darstellung einer rechtlichen Forderung als bereits eingetretene Tatsache verleiht dieser vielleicht einen gewissen Nimbus, als sei ihre Verletzung vollkommen unmöglich – dieser typische juristische Sprachgebrauch der Faktisierung von Normen läuft aber andererseits Gefahr, vom Normalbürger nicht ganz ernst genommen zu werden. Wie lautet das siebte christliche Gebot? Du sollst nicht stehlen! In modernem Juristendeutsch würde es wahrscheinlich so formuliert sein: Das Eigentum anderer Leute ist unantastbar.
4. An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass ich die Tendenz, die ich hinter Art. 1 S. 1 GG sehe, vollkommen teile: Andere Menschen sollen geachtet und geschützt werden. Meine Kritik betrifft nur den offiziellen Sprachgebrauch.
5. Doch was ist nun die Würde, die das Gesetz meint? Leicht nachvollziehbar ist, dass das Wort etymologisch etwas mit dem Begriff „Wert“ zu tun hat1. Bereits Kant2 hat sich dazu ausführlich geäußert und Würde sinngemäß als inneren Wert beschrieben, der nicht mit anderen Werten vergleichbar sei und aus persönlicher Selbstbestimmtheit erwachse (im Gegensatz etwa zur „Ehre“, die aus Fremdbestimmung hervorgehe). Für viele kommt im Begriff der Menschenwürde eine „Erhabenheit“ des Menschen zum Ausdruck – der Mensch als Krone der Schöpfung; in neuester Zeit wird aber auch eine Würde der Tiere oder der Natur im Ganzen postuliert.
6. Wird der Begriff der Würde nicht entwertet, wenn quasi alles eine Würde hat? Der Faden ließe sich ja noch weiter spinnen und auf alles ausdehnen, das wir irgendwie mögen, besonders pflegen oder gerne benutzen, weil es – für uns – einen besonderen Wert verkörpert. Kann ein Auto, das so solide, zuverlässig, nützlich und schön ist, eine Würde haben? Ein Werkzeug? Hatte zum Beispiel der Hut des Landvogtes Gessler, den Wilhelm Tell im bekannten Schiller-Drama grüßen soll, eine Würde? Er war in der geschilderten Situation einem Hoheitszeichen gleichgesetzt, wie es etwa auch eine Staatsflagge darstellt, die in vielen Ländern unter besonderem gesetzlichen Schutz steht. Diese Vergleiche mögen uns beinahe zynisch erscheinen, doch weisen sie auf unverkennbare Ähnlichkeiten in den Konstellationen hin.
7. Man könnte nun argumentieren, der Mensch habe immerhin einen freien Geist, der ihn von allen anderen Geschöpfen oder gar Sachen unterscheide. Und der verkörpere den besonderen Wert, sei eben die „Krone der Schöpfung“ und mache die besondere Würde aus. Eines von vielen propagandistischen Mitteln, das eigene Militär auf einen Krieg einzustimmen, war es immer schon, dem Feind eben diesen Wert abzusprechen, ihn als minderwertig, als „Untermenschen“ zu diffamieren. Das baut die Hemmung ab, andere Menschen zu töten. Andere machen weniger intellektuelle Umstände und sagen direkt, egal auf welcher Entwicklungsstufe, der Mensch sei zu würdigen, weil – und soweit – er „einer von uns“ sei. Wobei dieses „Uns“ mehr oder weniger weit oder eng gezogen sein kann. Dieses Motiv ist stammesgeschichtlich tief in unserem Verhalten verwurzelt: Schimpansen oder Ameisen würden es wohl ebenso formulieren, auf ihre jeweilige Gemeinschaft bezogen, wenn sie denn sprechen könnten. Damit ist ein drittes Argument angesprochen: Der Friede. Die Achtung der Menschenwürde soll danach ganz pragmatisch den Frieden zwischen den Menschen gewährleisten. Und in neuerer Zeit eben auch den Frieden mit der Natur.
All diese Beispiele zeigen ein ähnliches Muster: Dort das Phänomen, das einen besonderen Wert beinhaltet – hier wir, die es „würdigen“ sollen. Beziehungsweise seltener: gerigschätzen sollen.
9. Zurück zu Kap. 7. Wir haben drei Argumente für die „Menschenwürde“ genannt. Doch wer viele Argumente nennt, hat offenbar keines, könnte man frei nach Kant sagen. Die „Menschenwürde“ ist nicht, was sie zu sein vorgibt: eine Eigenschaft ihres Trägers. Sie existiert nicht aus sich selbst heraus. Oder anders ausgedrückt: Wenn es außer dem „Würdigen“ niemanden sonst geben würde, gäbe es auch keine Menschenwürde. Sie existiert allenfalls im Verhalten der Individuen untereinander. Aus der gegenseitigen Rücksichtnahme könnte man zwar versucht sein zu schließen, dass der Grund dafür im „Gewürdigten“ selbst liege – eben seine Würde –, doch empirisch nachweisen ließe sich eben nur das Verhalten.
10. Unstrittig dürfte hingegen sein, dass dieses Verhalten – unabhängig vom Begriff – einer ethischen Norm folgt, wie wir sie auch von den Zehn Geboten her kennen. „Du sollst Vater und Mutter ehren“ – das vierte Gebot z.B. geht in eine ähnliche Richtung3. Hier ist die Sache klar: Die Gebote stammen von Gott, und ihr Aufforderungscharakter ist unmissverständlich. Beim Grundgesetz ist die Sache etwas anders: Zwar wird in der Präambel Gott erwähnt („Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“), doch wird auch klargestellt, dass „sich das Deutsche Volk […] dieses Gesetz gegeben“ hat. Daraus könnte man schlussfolgern, dass das Grundgesetz – auf Umwegen – doch auf göttlichen Normen beruht, sozusagen die Konkretisierung diffuser höherer Moralvorgaben darstell, und dass das „Geben“ durch das Volk lediglich die technische Übermittlung betrifft. Lässt man Gott hingegen aus der Betrachtung, so stellt jetzt die „Verantwortung“ die neue Zauberformel dar. Womit man das scholastische Verwirrspiel nur um ein neues Wort erweitert hat.
11. Lehnt man eine Gottesvorstellung als Basis für Gesetze ab, so bleibt nur eine weltliche Ethik, die jedoch logisch nicht begründet werden kann und sich auf Hilfsvorstellungen stützen muss. so wundert es nicht, dass in über dreitausend Jahren Philosophie (China und Indien eingerechnet) unzählige Moralsysteme und Sittenlehren entstanden sind. Das Wohlergehen des Einzelnen, der Gemeinschaft, die Pflicht, der „moralische Sinn“ und vieles mehr wurden zu „Krücken“ für hochkomplizierte Lehrgebäude. Zwar gab es auch eine Gegenbewegung, die solche Krücken ablehnte, indem sie feststellte, dass Normen grundsätzlich nicht aus dem Faktischen entwickelt werden könnten – dass man also nicht sagen könne: Es ist so, also soll es so sein –4, dennoch bleibt einer weltlichen Philosophie faktisch nichts Anderes übrig, als eben so zu formulieren. Dabei erweist sich aus meiner Sicht eine Ethik, die sich auf evolutorisch gewachsene Verhaltensweisen stützt, noch als die am wenigsten verkrampfte. Es ist einfach verblüffend, wenn Verhaltensforscher feststellen, dass auch innerhalb einer Gruppe von Schimpansen ähnliche Verhaltensmuster gelten wie in menschlichen Gemeinschaften: Rangordnung, Kampfregeln, Streitschlichtung, Freundschaften, Allianzen, Altruismus, usw..5 Diese innerlich angelegten Verhaltensvorgaben würden sich uns dann über ein moralisches Empfinden mitteilen. Dies wurde von den Vertretern der Moral-Sense-Ethik6 und ihren modernen Nachfolgern so gesehen. Doch hier gibt es zwei Probleme:
12. Wenn sich Menschen zusammentun und über ethische Fragen diskutieren, tun sie im Grunde dies:
Ein Ergebnis dieses Prozesses ist zum Beispiel das vorhandene Rechtssystem. Doch das macht den weiteren Diskurs nicht überflüssig, denn die äußeren Bedingungen dieser Regelwerke sind in ständiger Bewegung – und dies immer schneller und hin zu größerer Komplexität. Ethik als Vorstufe zum Gesetz sieht sich immer neuen Herausforderungen gegenübergestellt. Dem trägt auf institutioneller Ebene z.B. der Deutsche Ethikrat, der das Parlament berät, Rechnung. Doch auch bei jeder Diskussion am Bier- bzw. Kaffeetisch spielen ethische Aspekte eine Rolle, denn es geht meistens nicht nur um besseres Wissen, sondern auch um Bewertungen, um „Einstellungen“. Muss man sein Kind impfen lassen, um einer nationalen Gesundheitsstrategie zu genügen? Ist die Entlassung von Tausenden Beschäftigter gerechtfertigt, um mittels einer Unternehmensfusion den Aktienwert zu steigern? Ist der Kapitalismus mit der „Menschenwürde“ vereinbar?
13. Damit kommen wir zum Ausgangspunkt dieser Ausführungen zurück, der „Menschenwürde“. Ethik ist kein freischwebendes Gedankenkonstrukt, sie stellt eine unabdingbare Grundlage für das Handeln von Staat, Wirtschaft, Vereinigungen und Privatpersonen dar. Aus der Notwendigkeit, die eigenen Aktionen zu begründen, erwächst auch das Streben, die zu Grunde liegenden „Werte“ an Staatsbürger, Kunden und sonstige Beteiligte zu vermitteln. Kurz: Auch Ethik unterliegt dem Marketing.
14. In früherer Zeit übten Kaiser und Könige ihr Amt „von Gottes Gnaden“ aus; diese elegante Untermauerung obrigkeitlichen Handelns ist heute entfallen bzw. auf die erwähnte Floskel der GG-Präambel geschrumpft. Statt dessen bedient man sich einer Eigentümlichkeit der Sprache, Dinge zu „verwesentlichen“, wie ich es einmal nennen möchte7. Wenn der Mond am Himmel „wacht“, eine eingerostete Schraube „widerspenstig“ ist, ein neues Auto einen „maskulinen Auftritt“ hat, kommt dies meiner Vorstellung schon sehr nahe.
15. Ich meine aber den Sonderfall, wo einem Objekt Eigenschaften zugeschrieben werden, die es scheinbar mit einer besonderen Autorität ausstatten, die aber aus ihm selbst nicht begründbar ist. Das ist bei vielen Rechtsbegriffen der Fall. Wenn der Neubau eines Hauses in freier Landschaft „unzulässig“ ist, so ist dies keine Eigenschaft des Gebäudes, denn in anderen Ländern wäre dessen Errichtung sehr wohl „zulässig“. Es ist der Ausfluss eines städtebaulichen Paradigmas, das die „Zersiedelung“ (Dieser Begriff ist auch nicht besser. Man versucht, einen fragwürdigen Begriff durch einen anderen ebensolchen zu begründen.) vermeiden will. Letzterer Begriff weist auf weitere Beispiele der Alltagssprache hin: „Unkraut“, „Raubtier“, „Unhold“. All diesen Bezeichnungen ist eines gemein: Die zugeschriebene Eigenschaft ist nicht oder kaum im Objekt der Bezeichnung nachweisbar – sie beinhaltet aber implizit eine Handlungsanweisung, wie mit der Sache umgegangen werden soll. Das Haus soll nicht gebaut werden, das Unkraut bekämpft, das Raubtier ferngehalten und der Unhold bestraft werden.
16. Bei den letztgenannten Beispielen fällt die Begründung nicht schwer, sie ist zumindest irgendwie plausibel. Dies ist bei Rechtsbegriffen, bei manchen Schlagworten der Kundenwerbung oder religiösen bzw. politischen Botschaften nicht immer der Fall. Insbesondere dann nicht, wenn die wahren Beweggründe der Beeinflussung im Dunkeln bleiben sollen – weil sie, wären sie bekannt, aus den verschiedensten Gründen auf Ablehnung oder zumindest auf Hinterfragung stoßen würden. Deshalb wird so getan, als hätten die Worte ein eigenes Wesen, ähnlich Platons Ideen, und würden aus eigener Kraft die Welt regieren. So z.B. bei den Menschenrechten und beim Völkerrecht – man behandelt internationale Verträge so, als handle es sich um Prinzipien, die auch ohne Zutun des Menschen existierten. Magisch und zwingend. Doch im Grunde handelt es sich nur um moralische Positionen, die sich die beteiligten Staaten zu eigen gemacht und in nationales Recht übernommen haben.
17. Bei vielen dieser „verwesentlichten Begriffe“ kann böser Wille ausgeschlossen werden. So auch bei der „Menschenwürde“ des Grundgesetzes. Doch was steckt dann hinter diesen Konstruktionen? Zu vermuten ist, dass uns das besagte „moralische Empfinden“ auffordert, sich so und so zu verhalten, doch bleibt uns dieser Zuruf unbewusst oder zumindest unerklärlich. Man kann nicht begründen, warum man sich tugendhaft benehmen will, aber dennoch will man es, hält es für selbstverständlich. Um dieses selbstverständliche Verhalten für alle verbindlich zu machen, greift man zur Verwesentlichung, projiziert die Handlungsaufforderung in das Objekt selbst hinein und versieht es durch gestelzte Begleitformulierungen mit einem gewissen Nimbus.
18. Man kann diesen Effekt „projektive Konstruktion“ nennen. Was verstehe ich darunter? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein kurzer Rückgriff auf das Wesen der Erkenntnis, der Kognition, hilfreich.
(a) Wir können die Dinge nicht so wahrnehmen, wie sie sind. Wir sehen Wellenlängen als Farben, empfinden Molekülbewegungen als Wärme etc..
(b) Wir verbinden das Wahrgenommene mit Assoziationen, also Erinnerungen, Wert, Diskurs etc.. Die wichtigste Zuschreibung ist das Wissen, wie mit der Sache umzugehen sei.
(c ) Wir verquicken in Sonderfällen bestimmte Zuschreibungen mit dem Objekt selbst und benennen es entsprechend. Das tun wir, um im gesellschaftlichen Rahmen zu einem bestimmten Umgang mit der Sache aufzufordern. Dies ist in der Regel empirisch begründbar: „Unkraut“ verdrängt Kulturpflanzen und soll daher vernichtet werden.
Bei all diesen Beispielen geht es immer um das beobachtete Objekt. Die „projektive Konstruktion“ ist aber noch einmal enger gefasst, nämlich
(d) Wenn es darum geht, ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen, destillieren wir die Zuschreibung aus dem Objekt heraus und verleihen ihr einen Eigenwert, sozusagen eine magische Kraft. Es geht nicht mehr um den würdigen Menschen, sondern um den Geist der Menschenwürde, der ihm innewohnt. Dies erinnert an die antike Götterwelt und ist empirisch nicht mehr begründbar.
Dieses Vorgehen mag man als Manipulation durch mediale Mächte empfinden und auch häufig Recht behalten. Doch es gibt auch noch eine zweite, hier schon erwähnte Möglichkeit:
zu (d) Wenn uns unser inneres Empfinden sagt, wie wir uns verhalten sollen, wir dies aber nicht begründen können – es quasi für „selbstverständlich“ halten – dann bedienen wir uns des Kunstgriffs, unsere innere Stimme in das Objekt, um das es geht, hinein zu projizieren. Aus unserer Neigung, unser Gegenüber freundlich zu behandeln, wird plötzlich dessen „Menschenwürde“, die uns zu einer gewissen Ehrerbietung zwingt.
Würden wir im Stil der Zehn Gebote sagen: „Du sollst deinen Mitmenschen achten“, liegt die Gegenfrage nahe: „Wer sagt das?“ Und schon wäre man in der Diskussion. Eine projektive Konstruktion bietet für eine solche Skepsis keinen Ansatzpunkt. Sie ist diffus, magisch, zwingend. Dies ist wohl einer der Gründe, warum man in Gesetzestexten so oft diesen Kunstgriff verwendet: Die Bestimmungen sollen nicht angezweifelt werden. Dass es auch anders ginge, zeigen weniger hochrangige Gesetze, z.B. das deutsche Tierschutzgesetz: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“8
19. Sollten wir also die „projektiven Konstruktionen“ nach Möglichkeit vermeiden? Weil sie uns Tatbestände vorgaukeln, die nicht existieren? Soweit wie möglich – ja. Sie passen zu einem Obrigkeitsstaat, aber nicht in eine transparente, selbstbewusste demokratische Gesellschaft. Es würde den gemeinschaftlichen Zusammenhalt stärken, wenn wir das Gefühl hätten, unsere Verhaltensregeln selbst beschlossen zu haben und nicht anonymen Gesetzen mit magisch-zwangshafter Wesenhaftigkeit zu unterliegen. Wäre es der Umsetzung moralischer oder rechtlicher Normen denn so abträglich, wenn wir sie als das Produkt unserer Volksvertretung ansehen würden? Dies sollte doch Nimbus genug sein! Und die Schwelle, darüber immer wieder neu zu diskutieren, herabsetzen.
20. Ganz verbannen sollte man die projektiven Konstruktionen m.E. jedoch nicht. Dies machen Sätze wie „Es geht um die Menschenwürde“ deutlich. Der Begriff ist einfach zu praktisch. Wenn wir statt dessen sagen würden: „Es geht darum, andere Menschen zu achten“, so wäre dies etwas umständlicher. Doch man merkt schon, dass das „Achten“ näher an der Verwirklichung liegt als die „Würde“. Die Verwesentlichung von Eigenschaften als projektive Konstruktion ist letztlich ein Relikt eines autoritären Staates, ein alter Zopf. Doch müssen nicht restlos alle Zöpfe abgeschnitten werden.
Ich würde die Menschenwürde als ethische bzw. moralische Formel beibehalten, aber aus dem Gesetzestext streichen.
1Siehe Duden Bd. 7, Herkunftswörterbuch, hier: Ausgabe 1963, Stichwort „Würde“.
2Vgl. u.a. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Felix Meiner Verlag 2013, Stichwort „Würde“.
3Formulierung entsprechend https://www.ekd.de/Zehn-Gebote-10802.htm
4Vgl. Stichworte „Naturalistischer Fehlschluss“, „Humesches Gesetz“.
5Vgl. z.B. F.d. Waal, Primaten und Philosophen, dtv 2011.
6Vgl. u.a. D. Hume (1711 – 1776) sowie die späteren naturalistischen Intuitionisten.
7Sicherlich haben die Linguisten einen eingeführten Fachausdruck dafür.
Plötzlich kamen mir zwei Hunde entgegengerannt, offensichtlich nicht in freundlicher Absicht. Sie schienen nicht sonderlich gefährlich – Format kleine Schäferhunde, Rasse unbestimmt –, aber dennoch war Vorsicht geboten – sie waren immerhin zu zweit. Ich blieb stehen (das hatten mir meine Eltern beigebracht, als ich klein war) und wartete ab. Die Hunde kamen auf etwa zwei Meter heran und bellten heftig. Das ging eine Weile so, ohne dass sich eine Änderung abzeichnete. Die Hunde verteidigten wohl ihr Revier, das schien mir plausibel, doch war mir unklar, wie ernst sie es meinten und wie mutig sie waren.
Schließlich beschloss ich, vorsichtig den Rückzug anzutreten. Ich bewegte mich zentimeterweise rückwärts, für die Hunde wohl wahrnehmbar, kam dabei aber faktisch kaum von der Stelle. Ich wollte unbedingt den Eindruck der Flucht vermeiden, was sie sicherlich zur Verfolgung angespornt hätte. Nach endlosen weiteren Minuten verstummte der eine Kläffer plötzlich, als sei ihm das Spiel allmählich zu dumm, kehrte um und trottete davon. Der andere sah sich nach ihm um (entrüstet? – so schien es), bellte noch eine Weile weiter; dann gab auch er auf.
Was war geschehen? Ich deute diesen Vorgang so: Die Hunde erkannten, dass sie den „Eindringling“ erfolgreich abgeschreckt hatten, aber weiter aufpassen mussten, dass er nicht doch noch einen Vorstoß wagte. Meine minutiösen Rückschritte machten ihnen klar, dass das wohl nicht passieren würde, so dass sie die Aktion abbrechen wollten. Dabei durfte jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass sie es waren, die die Flucht ergriffen. Auf diese Weise entfernten sich beide Seiten langsam von einander, Zug um Zug. Keiner war ein Feigling, für beide Seiten war der Rückzug ehrenhaft.
Ich gebe zu: Es steckt viel Interpretation in dieser Deutung. Ich hätte den Vorfall auch vergessen, wäre ich nicht immer wieder in Situationen geraten, die ich als ähnlich empfand. Beispielsweise bei einem Glücksspiel: Man kann schlecht aufhören, wenn man gerade eine Pechsträne hat. Das wäre vielleicht sinnvoll, stimmt aber doch zu pessimistisch für die Zukunft. Niemand geht gerne als Verlierer vom Platz. Ebensowenig kann man eine Glückssträne abbrechen, das wäre ja geradezu dumm. Was man braucht, ist der kleine Sieg nach einigen Verlusten. Der „kleine Sieg“ ermöglicht den ehrenhaften Rückzug.
Ein anderes Beispiel sind die Leute, die immer das letzte Wort haben wollen. Sie fühlen sich als Verlierer, wenn sie ihren Kopf nicht wenigstens symbolisch durchsetzen können. Ähnlich ist es beim Feilschen – beide Parteien müssen das Gefühl haben, einen guten Deal gemacht zu haben. Manche, die einer fixen Idee anhängen, versuchen ihr Leben lang, sie technisch umzusetzen und sehen ihren Stolz verletzt, wenn es wieder einmal fehlschlägt. Zum Beispiel Leute, die glauben, man könne sich allein von Licht ernähren (ein sehr extremes Beispiel, ich weiß. Aber es ist mir vor ein paar Tagen entgegen gekommen. Einer hat es tatsächlich so weit getrieben, dass er verhungert ist). Schließlich ein Fall, den sicher manche schon erlebt haben, die sich von ihrem Partner trennen wollten: Man möchte nicht derjenige sein, der verlassen wird. Man möchte selbst verlassen, braucht aber irgend einen Anlass dazu. Und es sollte moralisch in Ordnung sein. So belauern sich beide womöglich über Monate und warten auf den Augenblick, wo der andere einen Fehler macht.
Sicher ist die Bedingung des ehrenhaften Rückzugs, den ich hier einmal kurz „Ehrenzwang“ nennen möchte, nicht der einzige Beweggrund in den geschilderten Situationen. Ebenso kann eine narzisstische Störung eine Rolle spielen. Bei genauer Betrachtung der frühkindlichen Entstehungsgeschichte einer solchen Störung werden wir aber ebenso auf den Ehrenzwang stoßen, der damals existenziell gebrochen worden ist.
Was kann uns nun diese Erkenntnis nützen? Vielleicht hilft sie uns persönlich, mit als sinnlos erkannten Bestrebungen aufzuhören, indem wir den „kleinen Sieg“ als Chance begreifen, endlich loszulassen. Wichtiger ist vielleicht noch die Einsicht, seinen Gegenüber nicht unnötig in einer Weise niederzumachen, die seinen Stolz verletzt (eigentlich eine banale Erkenntnis). Schließlich gibt es für jeden Standpunkt Argumente, und auch eine vermeintlich falsche Meinung ist irgendwie nachvollziehbar.
Schließlich ist kann das Konzept des „Ehrenzwangs“ auch in der Psychotherapie nützlich sein, indem es dem Therapeuten hilft, eben jene Situation zu erkennen bzw. herbeizuführen, die dem Patienten wieder den Weg zurück zu seiner Autonomie bereitet.
1. In dem Buch „Kurze Antworten auf große Fragen“ nimmt der berümte Physiker Stephen Hawking Stellung zu verschiedenen vulgärwissenschaftlichen Fragen1. In Kapitel 6 behandelt er zum Beispiel das Thema: „Sind Zeitreisen möglich?“ Es geht ihm dabei nicht nur um ein beliebtes Science-Fiction-Sujet, sondern auch um eines der ernsthaften Physikwissenschaft. Vielen Lesern wird vielleicht der Roman „Das Restaurant am Ende des Universums“ bekannt sein2. Es handelt von einer Gaststätte, die es den Besuchern ermöglicht, in behaglicher Atmosphäre die Aussicht auf den realen Zusammenbruch des gesamten Kosmos zu genießen – und zwar beliebig oft, denn das Lokal befindet sich in einer Zeitschleife. In anderen Geschichten reisen die Protagonisten in die Vergangenheit, um die Ereignisse so zu verändern, dass schlimme Katastrophen in der Gegenwart verhindert werden können. Logische Widersprüche werden dabei gerne in Kauf genommen. Ernsthafter sind hingegen die Theorien des ebenfalls berühmten österreichischen Mathematikers Kurt Goedel, der mit seinen komplizierten „Goedel-Universen“ selbst Einstein zum Grübeln brachte3. Goedel stellte sich modellhaft ein rotierendes, geschlossenes und stationäres Universum mit negativer kosmologischer Konstante vor (fragen Sie mich nicht, was das ist), in dem jeder Raketenflug auch gleichzeitig eine Reise durch die Zeit wäre.
2. Hawking äußert sich zu solchen Vorstellungen zurückhaltend, doch insgesamt eher positiv.4 So sagt er auf Seite 162: „Es erscheint also als möglich, dass wir bei entsprechenden Fortschritten in Wissenschaft und Technik eines Tages in der Lage sein werden, ein Wurmloch zu konstruieren oder Raum und Zeit auf eine andere Weise zu krümmen, die uns erlaubt, in der Zeit zurückzureisen“. Diese Erkenntnis führt ihn allerdings zu einigen logischen Ungereimtheiten, zum Beispiel, dass man dann seine eigene Geburt verhindern könnte. Schließlich auch zu dem Einwand: „Wenn wir beispielsweise in der Zukunft lernten, Zeitreisen zu unternehmen, müssten wir uns fragen, warum noch niemand aus der Zukunft zurückgekommen ist, um uns zu zeigen, wie man das macht“5.
3. Das ist allerdings ein schwerwiegender Einwand, der nicht erst seit Hawking erhoben wird. Ich erinnere mich, dass ich ihn bereits in einem Buch von Hans Hass, dem großen Tauch-Idol der Neunzehnhundertfünfzigerjahre, gelesen habe. Doch vermutlich ist er noch wesentlich älter. Hawking untersucht dazu mehrere mögliche Erklärungen:
- Die Zukunftsmenschen waren bereits da, haben sich aber nicht zu erkennen gegeben. Dies hält er aufgrund der praktischen Erfahrung für unwahrscheinlich. Es wäre kaum möglich, die Anwesenheit zu vertuschen.
- Zeitreisen sind nur in Richtung Zukunft möglich. Pech für die Reisenden, denn auch sie könnten nicht zum Ausgangspunkt zurückkehren.
- Zeitreisen seien – nur unter strikten Bedingungen – a) in konsistenten Wirklichkeiten („Geschichten“) oder b) alternativen Wirklichkeiten (d.h., alle Möglichkeiten treten in verschiedenen Geschichten auch tatsächlich ein) denkbar. Besucher aus der Zukunft landen in diesem Falle womöglich nicht in unserer Wirklichkeit. Diesen Annahmen stellt Hawking seine „Chronologie-Schutz-Vermutung“ entgegen.
4. Verwunderlich an diesen Überlegungen ist die Tatsache, dass darin nur Menschen vorkommen. Wenn aber in nicht allzu ferner Zukunft Maschinenwesen das Zepter in die Hand nähmen – und dies halten viele für relativ wahrscheinlich – dann könnten natürlich auch Androiden bei uns vorbeikommen. Aber auch die tun es offensichtlich nicht.
5. Stephen Hawking ist Optimist, wie er selbst sagt. Vielleicht ist das der Grund, dass er eine einfache Erklärung für die Abwesenheit von Wesen aus der Zukunft nicht erwähnt. Diese Erklärung lautet:
Da ist niemand mehr, der kommen könnte.
Irgend etwas ist furchtbar schiefgegangen. Und zwar, bevor Zeitreisen machbar geworden sind. Und das hat auch die Roboter und Androiden erwischt. Also möglicherweise den ganzen Planeten. Oder sogar den ganzen Kosmos.
6. Vielleicht muss man ja aufpassen, wenn man den Raum krümmt, dass man ihn dabei nicht zerbricht. Das könnte ungeahnte Folgen haben. Vielleicht – und das scheint durchaus nicht unmöglich – hat es sogar damals den Urknall verursacht.
Ein Restrisiko bleibt immer.
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1Hawking, S., Kurze Antworten auf große Fragen, Klett-Cotta 2018, Kap. 6
2Douglas Adams, Das Restaurant am Ende des Universums, u.a. Heyne-Verlag 2009
3vgl. https://www.wissenschaft.de/geschichte-archaeologie/ein-ganzes-universum-als-zeitmaschine/
4wie er überhaupt den technischen Fortschritt m.E. allzu devot verherrlicht (was aus seiner Perspektive des vollständig Gelähmten, der nur mit Hilfe technischer Hilfsmittel kommunizieren kann, wiederum nachvollziehbar ist).
5A.a.O., S. 162
4. Homo naturalis
18.2.2019
1. Besitzt der Mensch Instinkte? Wenn ja: Wie sehr bestimmen sie sein Verhalten? Hat der Mensch nicht vielmehr einen freien Willen, der ihn gänzlich über die instinktgetriebenen Tiere erhebt? Die Diskussion dauert seit der Antike an und ist auch heute noch nicht beendet. Auch jetzt noch transportieren philosophische Strömungen, allen voran die sprachorientierten Richtungen des „Linguistic Turn“, die Vorstellung vom naturfreien menschlichen Geist. Ich persönlich bin auf diese Thematik gestoßen, als ich für meinen Aufsatz „Instinkt und Moral“ recherchierte und dabei zwangsläufig auf die Triebtheorie von Sigmund Freud stieß. Was mich zunächst erstaunte, war, dass der Begriff „Instinkt“ in diesen Ausführungen kaum erwähnt wurde, sondern eher eine Randerscheinung im Rahmen des Triebgeschehens darstellte. Zum zweiten irritierte mich, dass Triebe/Instinkte eher im ES, teilweise auch im ICH verortet waren. Hätten nicht zumindest die Instinkte dem ÜBER-ICH zugeordnet werden müssen?
2. Von Freud sind vor allem die beiden „topischen Modelle“ bekannt. Das erste umfasst die Systeme des Unbewussten, des Vorbewussten und des Bewussten. Das zweite, bekanntere, unterscheidet die Instanzen ES, ICH und ÜBER-ICH. Grob gesprochen ist das ES der Ort der Triebe, das ÜBER-ICH derjenige der Normen, während das ICH zwischen beiden und zusätzlich zur Außenwelt vermittelt. Habe ich Lust? Darf ich das? Ist das realisierbar? wären beispielsweise die Fragen, für die die drei Instanzen zuständig sind. Es handelt sich um ein Strukturmodell, das das psychische Innenleben des Menschen in Funktionen aufteilt ähnliche dem Modell eines Organismus oder eines Apparates. Das erste topische Modell beleuchtet die selbe Sache aus einer anderen Perspektive: Hier geht es darum, wie sehr wir uns dessen, was in uns abläuft, bewusst sind. Wobei das Unbewusste1 – ähnlich wie der Unterwasserteil eines Eisbergs – den weitaus größten Teil der Psyche einnimmt. Wie die meisten Gelehrten vor ihm unter-scheidet Freud praktisch nicht zwischen Trieben und Instinkten; sein Thema sind im Wesentlichen die Triebe. Nach seiner Auffassung – er hat sie im Laufe seiner Forschungen mehrfach modifiziert – stellen Triebe Kräfte körperlichen Ursprungs dar, die sich psychisch als „Drang“ darstellen und auf Befriedigung, d.h. Abbau der seelischen Spannung und Wiederherstellung eines inneren Gleich-gewichtes abzielen. Dieser Vorgang wird als lustvoll erlebt. Das Objekt der Begierde ist dabei in gewissen Maßen flexibel. Die Energie des Triebes nennt Freud „Libido“. Er war bestrebt, die Vielzahl denkbarer Triebe konzeptionell zu reduzieren und unterscheidet zunächst den Sexual- und den Selbsterhaltungstrieb, ab 1920 den Eros (Lebenstrieb) und den Thanatos (Todestrieb).
3. Die Freudschen Modelle sind in der breiten Öffentlichkeit nach wie vor im Umlauf, obwohl sich in den angrenzenden Fachwissenschaften – z.B. der Gehirnforschung – bedeutende Fortschritte ergeben haben. Lediglich in der wirtschaftsnahen Psychologie ist man lebhaft dabei, neue Sichten auf den Menschen zu kreieren. Da hier Marktinteressen die Resultate bestimmen, muss ihnen mit großer Skepsis begegnet werden. Ich erlaube mir deshalb, eine Weiterentwicklung unter allgemeinen Aspekten zu versuchen. Wesentlich erscheint mir dabei, nicht prinzipiell zwischen Mensch und Tier zu unterscheiden, denn der Mensch ist aus tierhaften Wesen hervorgegangen, und die erste Annahme – im Sinne der Denkökonomie – sollte darin bestehen, eine große Ähnlichkeit zu unterstellen. Wir sehen den Menschen als Tier, als besondere Spezies innerhalb der Ordnung der Primaten. Oder um es salopp zu formulieren: Wir werden die menschliche Persönlichkeit erst verstehen, wenn wir die des Schimpansen begriffen haben – und umgekehrt. Oder noch radikaler: Der Mensch ist im Grunde ein Wurm. Vorne hat er eine Fressöffnung, hinten eine zum Ausscheiden, dazwischen den gut verpackten Darm, der Energie für die Ortsveränderung liefert. Alles andere ist teurer Schnickschnack, der uns hilft, uns gegen die Unbilden der Natur und andere Würmer durchzusetzen. Dazu gehört auch ein Verhaltens-System. Um diesen Schnickschnack geht es.
4. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, doch physiologisch sehen wir deutliche (z.B. geschlechliche) oder leichte Unterschiede. Es ist plausibel, dass bereits diese körperlichen Verhältnisse auch unterschiedliche psychische Vorgänge bewirken: das Temperament, die Auffassungsgabe, die Empfindlichkeit der Sinne und vieles andere. Auf die ganze Tierwelt bezogen ist dies offensichtlich: Ein Frosch reagiert schon rein körperlich anders als eine Ente. Die physische Disposition ist also der erste Faktor, den wir bei der Erklärung der Psyche berücksichtigen müssen.
5. Recht körpernah ist auch ein zweiter Faktor, nämlich das Triebgeschehen. Hunger, Schmerz, Angst sind von starken körperlichen Reaktionen begleitet wie Hormonausschüttung, Erhöhung der Pulsfrequenz, Schweißausbruch und so fort. Der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat das Funktionieren der Triebe mit einem Gefäß verglichen, dem ständig Triebenergie zufließt, die bei Eintreffen bestimmter Bedingungen wieder abgelassen wird: das „psychohydraulische Modell der Verhaltensauslösung“. Diese Erklärung hat sich inzwischen allerdings als deutlich zu grob erwiesen.
6. Den dritten Faktor stellen die Instinkte dar. Der Begriff wurde über Jahrhunderte – und wird oft heute noch – mit dem des Triebes gleichgesetzt, was dazu geführt hat, dass klare Theorien über beide kaum möglich sind, da die grundlegenden Tatbestände zu verschiedenartig sind. Hunger ist etwas anderes als die Kunst des Weberfinken, ein Nest zu konstruieren. Ich halte es daher für sinnvoll, im Trieb den „Antrieb“ zu sehen und im Instinkt das „Gewusst-wie“. Hier handelt es sich um Wissen, das angeboren ist und somit nicht gelernt werden muss. Auch das Kleinkind verfügt schon über solches Wissen, wenn es die Mutter anlächelt. (Man sollte hier allerdings nochmals einen Unterschied zu reinen, quasi-mechanischen „Reflexen“ machen.)
7. Wie jeder Hundebesitzer weiß, können auch Tiere lernen. Sie können ihre Instinkte an die Erfordernisse der Umwelt anpassen, und es ist für den Beobachter kaum noch zu erkennen, was reiner Instinkt und was gelerntes Verhalten ist. Entscheidend für die modellhafte Betrachtung ist, dass innerhalb der Psyche Verhaltensrezepte vorliegen, die in bestimmten Situationen aktiviert werden können. Ich nenne sie „Kompetenzen“ bzw. im Aktierungsfalle „Routinen“. Bei einem Computer würde man sie vielleicht „Mini-Programme“ oder „Apps“ nennen. Sie gehen aus Instinkten und Erfahrungen hervor, und eine bestimmte Methode, Erfahrungen zu machen, ist dem Menschen und auch höheren Tieren eigen: das Spiel.
8. Diese Kompetenzen bzw. Routinen durchziehen den gesamten Wirkmechanismus der Psyche; auch die Art, wie Erfahrungen gemacht werden, wird so geformt. Was diesen Wirkmechanismus betrifft, lassen sich vier periphere Hauptfunktionen erkennen:
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass einige Autoren im Rahmen der US-amerikanisch dominierten „Theory of Mind“ das Konzept eines solchen „Virtual Governors“ ablehnen, u.a. unter Hinweis auf die Erkenntnisse der Gehirnforschung.
10. An dieser Stelle kommen weitere Begriffe ins Spiel: Kognition, Gefühle, Bewusstsein, Geist. Man ist leicht versucht, bei einem Funktionsmodell der Psyche die Wahrnehmung (Perzeption) und Verarbeitung des Wahrgenommenen (Kognition) zu vernachlässen, weil diese Funktionen nicht so spektakulär ablaufen wie das äußere Verhalten. Doch auch bei Perzeption und Kognition findet Verhalten statt. Stellen wir uns vor, wir sehen ein Auto. Wir nehmen sein Aussehen wahr, fügen die perzipierten Einzelteile zu einer Gestalt zusammen. Unsere Kognition (also eigentlich der Operator in uns) vergleicht das Bild mit unseren Erfahrungen und stellt fest: ein Auto. Aber nicht nur das: Wir sehen Farbe, kennen vielleicht den Typ, haben eine Meinung dazu (teuer – preiswert, perfekt – fehlkonstruiert, sportlich – viel Stauraum etc. etc.). Wir kennen die allgemeine Meinung über dieses KfZ, den betreffenden „öffentlichen Diskurs“. Wir wissen vielleicht, wer in unserem Freundeskreis so ein Modell fährt und freuen uns womöglich, es zu sehen. Oder wir verachten diesen Kleinwagen, der uns den Weg versperrt. Wir erinnern uns, den Wagen zuletzt in unserem Urlaub gesehen zu haben und schweifen in Gedanken ab … All dies sind Routinen der Perzeption und Kognition. Kurzum, wir sehen den Wagen nicht nur und können ihn einordnen, wir „verstehen“ ihn bis zu einem gewissen Grad auch. Dies ist die Grundfunktion der Kognition (und, wie ich behaupten möchte: der Philosophie): etwas verstehen, um damit umgehen zu können.
11. Dieses „Verständnis“ kann auch den Blick auf die Realität versperren, dann nämlich, wenn ein – vielleicht neuartiges – Phänomen unkorrekt eingeordnet wird und somit „falsch verstanden“ wird. Paradebeispiel ist das Wort „Unkraut“, das eine spezielle (gärtnerische) Interessenlage wider-spiegelt. Viele philosophische Ansätze laufen daher darauf hinaus, die Wahrnehmungen vom ganzen Kranz der Konnotationen zu befreien, um den Kern der Dinge freizulegen. Dazu gehören z.B. der Behaviorismus, die analytische Philosophie, der Dekonstruktivismus oder die Theoie des Geistes. Dies mag wissenschaftlich geboten sein; im Alltagsleben wäre es höchst hinderlich. Denn die Konnotationen sollen ja gerade das Verhalten flüssig machen und im Erkennen schon Verhaltensroutinen bereitlegen. Denken wir an den Autoverkehr. Oder denken wir an den ganzen Komplex der Empathie, mittels derer wir intuitiv Aufschluss über das Befinden unseres Gegenübers und seine Gedankengänge ermitteln wollen. Für ein Tier kann die Konnotation „Achtung! Gefährlich!“ überlebenswichtig sein.
12. Perzeption und Konnotation funktionieren mit Emotionen bzw. Gefühlen, genau so wie alle anderen Routinen des Verhaltens. Sie fallen bei den einzelnen Individuen sehr unterschiedlich aus – bis hin zum völligen Fehlen. Man denke an Autismus, Hyperaktivität, Psychopathie. Oder an die Übersteigerung bei sehr emotional reagierenden Menschen (vermutlich herrschen in der Tierwelt die selben Verhältnisse). Auch sie können vom Operator manipuliert – z.B. unterdrückt – werden. Neuerdings erhalten sie gesteigerte Aufmerksamkeit im Rahmen des Qualia-Konzeptes.
13. Bewusstsein und Geist – diese Begriffe tragen mehr zur Verwirrung als zur Klarstellung bei. Dies besonders dann, wenn aus dem Englischen übersetzt wird: consciousness und mind. Die Begriffe sind nicht deckungsgleich mit den Deutschen, was meist vernachlässigt wird. Oft (besonders in der Erforschung der Künstlichen Intelligenz – KI) werden Bewusstsein und Geist einfach gleichgesetzt. Ich sehe Bewusstsein in Abgrenzung von „Unterbewusstsein“ bzw. „Unbewusstem“ in dem Sinne, dass ich weiß, was ich empfinde oder tue (und im Zweifel Bericht darüber erstatten könnte). Somit hätten auch Tiere wie z.B. Hunde ein Bewusstsein. Das Bewusstsein wird vom Operator ausgeübt und kann sich grundsätzlich auf alle psychischen Funktionen beziehen – außer auf diejenigen des Unterbewusstseins. Es wirkt synchron mit den Gefühlen. Eine höhere Form des Bewusstseins stellt dabei das ICH-Bewusstsein dar, über das (nach heutigem Kenntnisstand) nur der Mensch und einige höhere Tiere wie Menschenaffen, Elefanten und Delfine verfügen. Durch das ICH-Bewusstsein wissen wir nicht nur, was wir empfinden oder tun, sondern auch, dass wir leben und individuell sind – wir können uns selbst reflektieren. Es ermöglicht uns, uns zu kontrollieren und unser Verhalten noch mehr zu optimieren. Weitere wichtige innere Instanzen sind das vielfach beschriebene „SELBST“ und das von mir so genannte „Szenarium“, eine Art innerer Beirat. Dies hier auszuführen, würde zu weit führen; es muss auf die Langfassung des Essays verwiesen werden.
14. Den „Geist“ sehe ich als besondere Komponente des Operators. Er verkörpert insbesondere die Funktionen.
Damit sind Fähigkeiten angesprochen, die in Ansätzen auch bei höheren Tieren beobachtet werden können. Sie sind eng mit der Vorstellungskraft verbunden, und sie funktionieren überwiegend bewusst. Was jedoch den Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit, diese virtuellen Vorstellungen anderen verbal mitzuteilen. Dies ermöglichte in der Evolution geradezu eine Explosion der geistigen Fähigkeiten bei gleichzeitiger (überwiegender) Gleichrichtung der Auffassungen. Und es begründet damit die Macht des Diskurses, wie sie zum Beispiel von M. Foucault und anderen beschrieben wird. Vorsorglich merke ich allerdings an, dass der Geist das Geschäftsfeld der Philosophen ist, die dementsprechend zur Überbewertung ihres Metiers neigen. Schließlich ist neben dem Geist auch der übrige Operator aktiv, was gerne übersehen wird. Und nicht nur das: Er bestimmt die Strukturen des Geistes wesentlich mit.
15. Der Geist ist das, wodurch wir uns speziell als Menschen definieren und uns von den Tieren abzuheben trachten. Der Geist ist dasjenige Element des menschlichen Operators, das nach einem langen Winterschlaf seit der Antike in der Neuzeit wieder erwacht ist und durch Descartes („Ich denke, also bin ich“) einen ersten erneuten Höhepunkt erlebt hat. Den Geist betrachten wir als gefährdet, im übrigen psychischen Geschehen wieder unterzugehen, weswegen wir ihn von der „materiellen“ Natur abheben und als göttlich inspiriert betrachten wollen. Manche Menschen sehen selbst ihren Körper als Sache und versuchen ihn nach allen Regeln der modernen Medizin und Technologie im Hinblick auf geistige Aufgaben zu optimieren. Zwar hat sich besonders im deutschen Kulturraum in der Folge der Romantik eine Rückwendung zur Natur gezeigt, die jedoch in der Postmoderne – trotz allen Umweltbewusstseins – im Begriff ist, wieder der behaupteten Dominanz des Geistes zu weichen. In der angelsächsischen Welt hat sich die Spaltung – entgegen einiger gegenteiliger Ansätze (Hume, Darwin u.a.) – weitgehend erhalten („There’s a jungle outside“); erst in neuester Zeit entdeckt man – wohl unter dem Eindruck der Neurowissenschaften – plötzlich den „Körper“ und versucht, eine Brücke zwischen ihm und dem Geist zu schlagen.
16. Der menschliche Geist hat einen solchen Grad an Emanzipation von seiner natürlichen Grundlage erreicht, dass ihm vieles möglich erscheint, was ihm seine ursprünglichen Routinen verbieten würden. Menschen können Selbstmord begehen, sie können sich gegenseitig sadistisch foltern, sie können sich Regeln – wie bei gewissen Sekten – geben, die weitgehenden Triebverzicht beinhalten. Die Frage ist, wie weit diese Entfremdung von uns selbst gehen kann. Dabei zeigt sich, dass extreme Lebenskonzepte immer wieder „von unten“ erodieren und auf ein naturnahes Verhalten zurückgeführt werden. Selbst ihre Fixierung durch religiöse Dogmen, verbunden mit Belohnungen und Strafen, hilft langfristig nicht gegen die einsetzende Dekadenz. Die tradierten Routinen, angetrieben von kurzfristiger Triebbefriedigung und gesteuert von Instinkten sowie Gelerntem, setzen sich auf lange Sicht durch. Je mehr die Paradigmen der Lebensführung von vornherein darauf Rücksicht nehmen, desto größer ist die Chance, dass sie von Dauer sind.
17. Stellen wir uns ein Fußballspiel als Gleichnis des Lebens vor. Man spielt nach Regeln, die unter bestimmten Bedingungen zum Erfolg des Torschusses führen. Sie sind „erfunden“ und in Worte gefasst. Wenn sie den Spielfluss behindern, können sie geändert werden. Doch dies bedarf einer neuerlichen Übereinkunft und findet außerhalb des Spieles statt. (Im Falle des richtigen Lebens gibt es allerdings kein „Außerhalb“). Stellen wir uns weiter vor, einzelne Spieler propagieren während des Spieles plötzlich neue Regeln und spielen danach. Diese Gelegenheit nutzen andere und verkünden ihrerseits veränderte Vorschriften. Das einsetzende Chaos wird dazu führen, dass keine Regel mehr gilt und das Spiel, wenn es denn weitergeführt wird (und das Leben muss weitergeführt werden) auf archaische Grundstrukturen zurückfällt. Worin die bestehen, kann man bei seinen spielenden Hunden beobachten: Ätsch, ich hab das Bällchen, das kriegst du nicht, hol’s dir doch, du schaffst das nicht, bin schon weg! Ein Grundmuster des archaischen Spiel-Instinktes. Und ein Ur-Anker unseres Verhaltens, auf den wir uns bisher verlassen konnten. Er funktioniert allerdings nur auf einer halbwegs natürlichen Spielfläche.
18. Hier liegt das Problem. Die Auswirkungen der geistigen Fähigkeiten des Menschen haben ein solches Ausmaß erreicht, dass sie seine Lebensbedingungen in globalem Maßstab grundhaft zu verändern drohen. Nicht ohne Grund wird von verschiedener Seite vorgeschlagen, unser gegenwärtiges Erdzeitalter „Anthropozän“ zu nennen, Zeitalter des Menschen. Denn das Gesicht unseres Planeten trägt immer mehr Zeichen „anthropogener“ Einflüsse. Ursprüngliche Nomadengesellschaften mutierten zu hochkomplexen Zivilisationen, deren Regeln von den Finanzmärkten diktiert sind. Ursprünglich sinnvolle Verhaltensweisen, wie Macht- und Sexualstreben, pervertieren in den unnatürlichen Verhältnissen und treiben die Entwicklung voran.
Die gesellschaftlichen und technischen Systeme werden immer größer und komplizierter, können immer weniger durchschaut und gesteuert werden, wuchern ohne Rücksicht auf Gedeih oder Verderb, sind immer systemanfälliger und erzwingen den Überwachungsstaat. Mit den evolutorischen Grundmustern unseres Verhaltens sind wir machtlos; intellektuelles Spezialistentum erreicht nur Teilbereiche der Formation. Einen weiteren Schritt zu tun und auf künstliche Intelligenz zu setzen hieße, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, denn KI wird zwangsläufig zu einer weiteren Denaturierung unserer Umwelt und Lebensweise führen. Umfassende Tendenzen in dieser Richtung sind bereits gegenwärtig erkennbar. Und wir stehen erst am Anfang der Entwicklung. Neue Kommunikationsformen führen jetzt schon zu Gefühlsverarmung, Verlust von Autonomie, Abhängigkeit großer Anteile der Bevölkerung. Dies weitergedacht droht zukünftig das Bild einer zweiten Sesshaftigkeit: Die Anflanschung der Individuen auf bestimmte Anschlussstellen des elektronischen Systems. Menschen als Korallenpolypen eines KI-Riffs im transhumanistischen Zeitalter.
19. Dies kann niemand wollen. Der Mensch ist nicht innerlich leer, er wird die Verbiegung spüren und darunter leiden. Doch er wird andererseits seine Abhängigkeit vom KI-System wahrnehmen und es keinesfalls in Frage stellen wollen – auch dies ein Ur-Instinkt, den wir mit vielen anderen Lebewesen teilen. Und ein Teufelskreis. Hier ließen sich nun viele kühne Spekulationen anstellen und auch vielfältige Ideen zur Vermeidung solcher Dystopien entwickeln – Konzepte mit fragilen Erfolgschancen. Klar scheint zu sein, dass dies die Hauptaufgabe der zivilisierten Menschheit ist:
Die Lebensverhältnisse so zu gestalten, dass sie zu unserem inneren Bauplan samt Verhaltens- Grundstruktur passen.
Und nicht etwa den Menschen an die neuen Gegebenheiten anzupassen, denn dies wird zwangsläufig mit neuen inneren Defekten und weiterer Entwurzelung einhergehen. Die Forderung nach einem klaren Menschenbild als Zielvorgabe künftiger Selbststeuerung ist das Grundanliegen dieses Aufsatzes. Der Mensch darf nicht das Objekt der Entwicklung unter den Prämissen der Hypermoderne sein; in dieser Beziehung ist er den Androiden immer unterlegen und letzten Endes überflüssig.
20. Im vorliegenden Aufsatz habe ich einige Gedanken konkret, vielleicht auch etwas drastisch formuliert und mag dabei auch über das Ziel hinausgeschossen sein. Es geht mir jedoch nicht um Details, sondern um grundlegende Tatbestände und Tendenzen. Ich möchte diese Anliegen folgendermaßen zusammenfassen:
(1) Der Mensch ist nicht anfänglich psychisch leer und dazu gezwungen, sein gesamtens Verhalten zu lernen. Auf die vorhandene Verhaltens-Grundstruktur muss Rücksicht genommen werden.
(2) Es ist verwunderlich, dass die Persönlichkeitsmodelle seit Freud, Jung und Adler kaum ernsthaft weiterentwickelt wurden. Weder die Erkenntnis, dass alles unglaublich komplex sei noch die Flucht in die Neurowissenschaften entledigen uns davon, systematische, übersichtliche Muster zu identifizieren, schon allein deswegen, um Vergleiche zu anderen Lebewesen anstellen zu können.
(3) Es ist – im Sinne der analytischen Philosophie – nötig, die verwendeten Begriffe genauer zu definieren und mit Standardvorstellungen zu koppeln. Allein die pragmatische Unterscheidung von „Trieb“ und „Instinkt“ führt schon zu einem Erkenntnisfortschritt. Gleiches gild für Bewusstsein, Ich-Bewusstsein, Vorbewusstsein, Unterbewusstsein, Unbewusstes oder für Sprache (sinnlich – virtuell).
(4) Alle Forschung zum Wesen des Menschen dient denjenigen, die die Mittel haben, die Ergebnisse in ihrem Sinne auszubeuten. Dies ist ein Dilemma, das unauflösbar mit dem menschlichen Geist und dessen Streben nach Erkenntnis verbunden ist. Die Rechtfertigungen für den Missbrauch sind vielfältig und nutzen oft altruistische Argumente (medizinische Therapie, Pädagogik etc.). Solche Tendenzen müssen systematisch aufgedeckt und nach Möglichkeit gering gehalten werden.
(5) Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass wir an einer Schwelle des Zeitenumbruchs stehen, vergleichbar mit der Sesshaftwerdung. Die Möglichkeiten, den Menschen auch physisch zu modifizieren oder gar technisch aufzurüsten, nehmen exponentiell zu. Die Bereitschaft der Einzelnen, dies anzunehmen, ist, angefeuert vom Konkurrenzdruck, zwangsläufig gegeben. Da dies offensichtlich einem Nullsummenspiel entspräche, kann ein tieferes Interesse an einer derartigen Entwicklung nicht erkannt werden.
1Die Begriffe „Unterbewusstsein“ und „Unbewusstes“ werden meist synonym gebraucht, obwohl sie sprachlich unterschiedliche Dinge bezeichnen: Das „Unbewusste“als Sammelbegriff umfasst alle nicht-bewussten Tatbestände und Abläufe; das „Unterbewusstsein“ ist als psychische Funktion zu denken wie das Bewusstsein.
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Schaltet man heutzutage das Radio ein, zum Beispiel einen Nachrichtensender, so wird man bald die Wörter „Migration“, „Asyl“, „Toleranz“, „Integration“ hören. Das Thema beherrscht die Informationsmedien seit der andauernden Massenflucht aus vorwiegend muslimischen Ländern nach Europa und speziell nach Deutschland. Die Meldungen sind meist bedrückend und lösen einen Reflex zu helfen aus.
Aber es gibt auch die Gegenposition: man dürfe den guten Willen der Einheimischen nicht überstrapazieren, schließlich gehöre unser Land uns. Durch das Einsickern fremder Kulturen sei die europäische beziehungsweise deutsche in Gefahr, es entstünden nicht-integrierte Parallelgesellschaften. „Das Boot ist voll“ heißt die Parole. Auf diese Argumente zielt das Kanzlerinnenwort ab: „Wir schaffen das!“
In der Regel wird dieser Streit als moralische Frage abgehandelt, wobei den „Rettern“ meist spontan die höhere ethische Gesinnung unterstellt wird. Doch auch die Befürworter einer Drosselung des Zustroms berufen sich auf ethische Grundsätze: Wir trügen nicht die Schuld am Elend in den Quellenländern; man brauche gelingende Integration, die bei einem Massenansturm nicht möglich sei. Die Politik steht vor einem Dilemma: Sie muss stets ergebnisbezogen handeln, ist aber andererseits gezwungen, dies mit unkomplizierten, an Grundsätzen orientieren Schlagworten ihren Wählern zu verkaufen. Philosophisch betrachtet stehen sich hier die Verfechter einer „deontologischen Ethik“ (Handeln nach Grundsätzen) und der „konsequenzorientierten Ethik“ (Handeln nach voraussichtlichen Ergebnissen) gegenüber.
Ich kann mich an eine Fragestellung während des Volkswirtschaftsstudiums erinnern, die den Streit zwischen den beiden Positionen illustriert: Darf ein Wirtschaftspolitiker lügen? Nach deontologischer Sichtweise nicht, denn hier ist Lügen grundsätzlich nicht erlaubt. Nach konsequenzorientierter Ethik schon, denn es kann sein, dass durch eine negative Aussage über die zu erwartende Wirtschaftsentwicklung diese beschleunigt wird. Der Effekt ist als „Selbsterfüllende Prognose“ bekannt. Lügen wäre aus dieser Sicht heraus durchaus zu rechtfertigen.
Vom grünen Tisch aus, vor einem anonymen, laienhaften Publikum mag dies kein Problem sein; gegenüber einem anderen Fachmann, von Angesicht zu Angesicht, schon. Und hier liegt der Pferdefuß in all diesen Beispielen. Die Handlungsweise hängt nämlich nicht nur von der moralischen Einstellung ab, sondern auch von der menschlichen Nähe. Sehe ich die Betroffenen körperlich vor mir? Kenne ich sie? Habe ich zu ihnen eine spezielle Beziehung, im Guten oder Bösen? Und: Löse ich das Problem durch eigenes Handeln? Oder durch Unterlassen? In diesen Fällen greift unsere „Natur“, die, kurz gesagt, dahin tendiert, Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen und dies auch moralisch gutzuheißen. Wir sind hier eher bereit, uns in die Leidenden einzufühlen und uns vorzustellen, wir seien an ihrer Stelle. Gemeinhin spricht man in diesem Zusammenhang von „Empathie“.
Das Wort leitet sich ab von den altgriechischen Wurzeln „em“: in, bei und „path-“: leiden, fühlen. Es entstand im 19. Jahrhundert parallel zum deutschen Wort „Einfühlung“ und hat sich seitdem international durchgesetzt. Was ist damit gemeint?
Den Hintergrund dieses Begriffs bildet die Vorstellung von einem Verständnis zwischen Personen, das ohne Sprache funktioniert – anhand der Kenntnis der Situation, Herkunft, Erscheinung, des Verhaltens u.s.w. des jeweils anderen. Man ahnt, wen man vor sich hat, ohne dass es einem erklärt wird – oder eben: trotz anderslautender Erklärungen. Zum Beispiel merkt man, dass man über den Tisch gezogen werden soll. Oder man fühlt den Schmerz des anderen und trauert mit ihm. Letztere Deutung entspricht wohl dem Alltagsgebrauch des Wortes im Sinne von „Mitgefühl“. Dies ist auch die politische Botschaft unseres Ausgangsbeispiels – Hilfe für Immigranten.
Gräbt man tiefer nach, stellt man bald fest, dass der Begriff zahlreichen unterschiedlichen Sichtweisen unterliegt, je nach fachlicher Position des Autors und seiner eigenen mentalen Verfasstheit. Man erkennt, dass er überall im Spiel ist, wo es um psychische Prozesse geht – also immer, wenn Erkennen, Verstehen, Mitfühlen stattfindet. So führt das Online-Wörterbuch für Psychologie und Pädagogik gleich fünf verschiedene Definitionen auf. Vereinfachend kann man sagen, dass sich die Varianten nach dem Grad der Ergriffenheit desjenigen, der den anderen empathisch1 wahrnimmt, unterscheiden. Den Begriff, der dabei die größte Distanz ausdrückt, stellt dabei die „kognitive Empathie“ dar.
Bei der kognitiven Empathie geht es nicht nur um die gefühlsmäßige Wahrnehmung des anderen (emotionale Empathie), sondern um die Einbeziehung unseres Verstandes und aller Informationen, die diesem zugänglich sind. Wir wissen z.B. Bescheid über den Werdegang des Anderen, die Situation, in der er steht, seine Betroffenheit von einem aktuellen Ereignis und deuten sein Aussehen, seine Gesten, seine Vorlieben. Wir haben zwar eine grundsätzliche emotionale Haltung ihm gegenüber und können uns auch seine aktuelle Befindlichkeit vorstellen, sind davon jedoch nicht ergriffen, sondern unter Umständen kritisch eingestellt. Wir leiden oder freuen uns nur sehr begrenzt und kontrolliert mit ihm. Das entspricht etwa der Situation, wo wir uns mit einem Freund im Lokal treffen und über andere Freunde sprechen. Wie geht es ihm? Warum ist er so komisch? Stimmt was in seiner Beziehung nicht? Ist er uns freundlich oder feindlich gesonnen? Ob er sich wohl über seine Versetzung freut? Was wird er als nächstes tun? Es geht darum, den anderen zu verstehen. Dass dabei auch Werturteile aus unterschiedlichsten Quellen, zum Beispiel der allgemeinen Meinung, eine Rolle spielen, ist einleuchtend.
Die zweite wichtige Variante in dieser Thematik ist die „emotionale Empathie“. Sie ist das, was landläufig meist mit Empathie gemeint ist: das spontane Miterleben mit dem anderen, die Teilhabe an seiner Befindlichkeit. Dabei geht es zum Beispiel um Mitgefühl, Mitleid, Mit-Freude, aber auch um Mit-Wut, Mit-Ärger. Paradebeispiel ist die Identifikation mit einem Roman-Helden, das Miterleben seiner Gefühle. Man zittert mit und hofft, dass am Ende alles gut ausgeht. Hervorstechend ist immer das „Mit“ auf der Basis einer grundsätzlichen Sympathie für den Anderen. Emotionale Empathie geht mit Liebe, Vertrauen, Freundschaft und Identifikation (auch z.B. mit einer Führungsperson) einher. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ sagt der Volksmund. Emotionale Empathie ist in der jeweiligen Situation weitgehend unreflektiert und kann daher von entsprechend talentierten Personen manipuliert und abrupt enttäuscht werden. Sie spielt daher im Management und Marketing eine große Rolle – im positiven wie im negativen Sinne. Und nicht zuletzt auch in der Politik.
Darüber hinaus kann man noch zahlreiche weitere Spielarten unterscheiden, deren Zurechnung zum Gesamtphänomen nicht immer eindeutig erscheint. Hierzu zählen die Gefühlsansteckung, der Perspektivwechsel, die Empathie zwischen Gruppen, gegenüber sich selbst, gegenüber Sachen, zwischen Mensch und Tier, ja selbst gegenüber imaginären Personen (wie z.B. Filmhelden). Hier wird die Allumfassenheit des Phänomens deutlich – verstehen ohne Worte. Das trifft nicht nur auf Menschen zu, die ja auch die Sprache zur Verfügung haben. Eine viel wichtigere Rolle spielt die Empathie im Tierreich, wo es lebenswichtig sein kann zu erkennen, in welcher Absicht sich der andere nähert. Oder warum die Vögel plötzlich schweigen. Warum die Fische auf der anderen Seite des Riffs fliehen. Was es bedeutet, wenn die Wespe im Flug nervös hin und her tänzelt. Es ist daher sinnvoll, dies sei hier nachdrücklich angemerkt, bei der Erörterung von anthropologischen Themen wie der Empathie immer auch das Tierreich einzubeziehen.
Die Fähigkeit zur Empathie kann im Übermaß vorhanden sein, aber auch mehr oder weniger fehlen beziehungsweise blockiert sein. In diesem Zusammenhang sprechen wir von Asperger-Syndrom, von Autismus oder Psychopatologie.
Wenn wir uns ein Bild vom anderen machen (kognitive Empathie), spielen weitere Faktoren hinein: zum Beispiel die einfache „Projektion“. Wir denken in Klischees und in Erwartungen, die wir in den oder die anderen „hineinsehen“. Entspricht der Betreffende im Aussehen einem bestimmten Typ, verhält er sich auf die oder jene Weise, so rasten bei uns sofort – unwillkürlich und mehr oder weniger unbewusst – „Vorurteile“ ein, die uns provisorisch sagen, wie wir uns ihm gegenüber am besten verhalten sollten. Hat man diese Kriterien nicht zur Verfügung, nimmt man der Einfachheit halber oft an, der andere sei wie man selbst. Ich persönlich habe Freunden schon oft die Frage gestellt, wie es sich bei ihnen verhält. Während viele mir zustimmten, dass auch sie vom ersten Sehen an eine Einschätzung des anderen hätten (wobei sie Wert darauf legten, dass sie ihr Urteil fortwährend den Erkenntnissen anpassten), waren andere stolz darauf, dass sie sich erst nach und nach eine Meinung über ihr Gegenüber bildeten. Man kann geteilter Ansicht sein, ob letzteres eher einen Mangel oder eine moralische Haltung widerspiegelt. Mancher philosophische Streit scheint auf dieser unterschiedlichen Sichtweise zu beruhen.
Zurück zu unserem Ausgangsbeispiel, der Rettung und Aufnahme von Flüchtlingen. Das Radio bringt wieder einen Beitrag zu dieser Problematik. Die Frage ist: Schalten wir es ab? Weil es immer das Gleiche ist, weil wir uns langsam ausreichend informiert fühlen und stetige Wiederholung doch nichts ändert? Weil diese Beiträge allmählich zur Belästigung, zur Belastung werden? Oder sind wir bereit, uns ein weiteres Mal mit dem Geschehen zu befassen, weil es so umfassend und teilweise entsetzlich ist, dass man die Augen einfach nicht davor verschließen kann – weil es unmenschlich wäre, Mitgefühl zu verweigern?
Das Abschalten des Radios ist ein gutes Sinnbild für eine Eigenschaft insbesondere der emotionalen Empathie: Man kann sie an- und abschalten. Man kann mit jemand Freundschaft schließen, das heißt, sich ihm öffnen, oder sich mit ihm verfeinden, sich ihm verschließen. Beispiele gibt es im täglichen Leben mehr als zahlreich. Ich kann meinem Freund nicht schaden, wenn ich ihn gut kenne und mag. Ich kann ein Kaninchen nicht schlachten, wenn ich es lieb habe. Liebespaare können sich nicht trennen, wenn sie sich nicht gegenüber dem anderen „wappnen“, das heißt, dass sie ihre Gefühle für den anderen nicht stillegen oder abkapseln. Ein erfolgreicher Verkäufer oder Vertreter wird versuchen, auf meine – auch nicht explizit geäußerten – Wünsche einzugehen damit eine emotionale Öffnung gegenüber seinem Angebot zu erreichen. Was im Übrigen auch für alle anderen Interessenvertreter gilt, zum Beispiel für Politiker. Überzeugen und Überreden liegen nahe beieinander. Die Verführer (als Person) werden dabei auf ausgefeilte Methoden, überwiegend aber auf ihre intuitiven Fähigkeiten, auf ihr Gespühr zurückgreifen. Wenn wir uns gegen solche Einflussnahmen schützen wollen, sollten wir uns Klarheit über den Mechanismus verschaffen, der die Stärke unserer emotionalen Empathie steuert.
Was bewirkt, dass wir uns öffnen oder verschließen? Zum einen liegen die Gründe in der Sache selbst. Die psychische Kapazität ist begrenzt; individuelle seelische Beziehungen lassen sich nicht beliebig vervielfachen. Dann verflachen sie; man stumpft ab und wird sogar gleichgültig. Ich kann sozusagen mein Geld nur einmal verschenken. Ähnlich funktioniert es in medizinischen Berufen: Als Sanitäter oder Notarzt kann ich nicht mit jedem Verletzten mitfühlen; ich muss meine Gefühle verdrängen oder erst gar nicht zulassen und ihn als „Fall“ ansehen, um überhaupt arbeitsfähig zu sein. Nicht selten geschieht es, dass Menschen, die eigentlich in einem karitativen Beruf (z.B. Sozialarbeiter) einen Sinn finden wollten, zu Zynikern werden angesichts der Unmöglichkeit, überall einzugreifen, wo Hilfe nottut.
Zum anderen spielt unsere ethische Einstellung eine große Rolle bei der Regelung der Empathie. Unter anderem bewertet sie die Menschen anhand ihrer Herkunft, ihrer Erscheinung, ihres Verhaltens, ihrer Verständlichkeit – kurz: anhand eines Klischees – und sagt uns, ob wir uns öffnen oder verschließen sollen. Lernen wir die Personen näher kennen, löst sich das Klischee meist auf und wir setzen die gleichen differenzierten Moralvorstellungen an, die wir auch gegenüber unseren Bekannten anwenden. In den meisten Fällen führt dies wahrscheinlich zu einer Öffnung, allerdings nicht zwangsläufig. Anzumerken wäre hier, dass moralisches Verhalten natürlich auch ohne unmittelbare Empathie funktionieren kann.
Ein weiterer Faktor sind materielle beziehungsweise vitale Gründe. Habe ich durch die Beziehung zu einer Person (wahrscheinlich) einen geldwerten Vorteil oder Nachteil? Will sie mir meinen Besitz, mein Land streitig machen? Ist sie ein Konkurrent, z.B. bei der Partnerwahl, oder wird sie mich unterstützen? Ein schönes Beispiel hat Dürrenmatt mit seinem Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“ gegeben. Darin können die Bewohner einer Kleinstadt nur unter der Bedingung in den Genuss einer großen Geldsumme kommen, wenn sie einem geachteten Mitbürger die Freundschaft entziehen und ihn schließlich umbringen. Was sie dann auch tun. „Bei Geld hört die Freundschaft auf“, sagt der Volksmund. Der Mensch wird dann schnell zum Hindernis, zum „Störenfried“ oder gar zur Sache degradiert.
Schließlich spielen weitere Faktoren, wie ein Untergebenheitsverhältnis, die Identifikation mit einem Idol, der sexuelle Reiz des Anderen oder die Sympathie eine Rolle.
Die Regelmechanismen, die auf die Stärke der Empathie Einfluss haben, sind somit vielfältig. Es nimmt nicht Wunder, dass Personen und Organisationen, die ihr Geschäft auf der Zuneigung der Menschen aufbauen, auch versuchen, diese Hebel zu betätigen. Das beste Beispiel dafür ist die kommerzielle Werbung, beispielsweise für eine Zahnpasta. Im Idealfall bietet sie ein Prominenter mit einem gewissen Sexappeal und mit der sehr persönlichen gefärbten Bemerkung an, dass er sie selbst auch benutze, dass man dabei spare, dass man von den Freunden bewundert werde und nicht zuletzt, dass man damit auch den Tropenwald rette. Das Gleiche gilt für Tütensuppen, Autos, Bankkonten. Man stumpft ab und hört kaum noch zu; dennoch wirken die Botschaften unbewusst.
Natürlich nutzen auch Politiker diese Mittel; es geht schließlich um die Zustimmung zu ihrer Politik und damit um Wählerstimmen. In unserem Fall hat sich die Politik zur großzügigen Aufnahme von Flüchtlingen entschieden und ist nun bemüht, dies dem Volk nahezubringen. Es geht um die Durchsetzung einer beschlossenen Strategie. Dabei sieht sie sich einer großen Zustimmung, aber auch einer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber. Hier kommen die oben beschriebenen Hebel zum Einsatz, also Machbarkeit und vitale Interessen der Bevölkerung. Darauf zielt das Argument der Kanzlerin „Wir schaffen das“. Portraits von gut integrierten Zuwanderern, tadellos gekleidet und deutsch sprechend, sollen emotionale Empathie wecken und diesen Optimismus untermauern, während kriminelle Vorfälle dabei zu gravierenden Rückschlägen führen.
Dann das ethische Argument mit seinem Anspruch zu helfen. Auch dieses zielt vor allem auf die emotionale Empathie – das spontane Mitgefühl. Hierfür dienen drastische Schilderungen der Zustände in den Quellenländern, das Desaster der Flucht über das „Totenmeer“ und die Hoffnungslosigkeit der Geflüchteten angesichts entwürdigender Verfahren und der Gefahr, wieder abgeschoben zu werden. Darüber hinaus wird an das neuralgische Schuldgefühl der Deutschen appelliert: Als ehemalige Kolonialmacht, die Mitverursacher der chaotischen Zustände in den Quellenländern sei, und allgemein auf Grund der Naziverbrechen. Die Reihe der Argumente ist vielfältig und enthält teilweise erstaunliche Wendungen und Widersprüche, was im Rahmen der wenig reflektierten emotionalen Empathie jedoch kaum weiter stört.
Anders wäre es bei kognitiver Empathie, bei der auch der Intellekt gefragt ist. Hier stellt sich zum Beispiel die Frage, auf welcher ethischen Grundlage die Politik eigentlich beruht. Es wird lediglich gesagt, eine Handlung sei „ethisch“, ohne weitere Begründung. Dies ist aber nicht akzeptabel. Ethische Argumente entstehen nicht im Nichts; werden sie nicht benannt, liegt der Schluss nahe, dass die eigentlichen Beweggründe andere sind. Nicht umsonst sieht die christliche Bibel die zehn Gebote als von Gott gegeben an, und auch in anderen Religionen leitet sich die Ethik von höheren Mächten her. Hier ist vielleicht eine Klarstellung angebracht: Ich stelle ausdrücklich nicht moralisches Handeln Frage. Ich möchte aber wissen, wer oder was da letztlich diese Anforderungen stellt, um zu prüfen, ob ich nicht einem Trugschluss unterliege. Im Gegensatz zu transzendentalen Begründungen halte ich eine Herleitung der Ethik „von unten“ , von der „Natur des Menschen“, der dann eine helfende Verhaltenskomponente unterstellt wird, für theoretisch geeigneter. Theoretisch ist diese Möglichkeit deshalb, weil die politisch-mediale Klasse in Deutschland einen vulgärbehavioristischen Ansatz verfolgt, der den Menschen als innerlich apriori leer definiert, und der die Verfechter eines biologischen Ansatzes in die Nähe einer rechten Gesinnung rückt. Diese Tendenz der medialen Politik halte ich für sehr bedenklich; ich werde nicht aufhören, die Politik nach der Begründung ihrer offiziellen Ethik zu fragen.
Wie bereits angemerkt, erinnern die Forderungen nach ethischem Verhalten am ehesten an die christlichen Morallehre mit ihrem Grundsatz der Barmherzigkeit. Politiker sollten jedoch in religiöser Hinsicht neutral argumentieren, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass die Quellen ihrer ethischen Forderungen nicht benannt werden. Zum anderen sollten sie nicht nach starren Grundsätzen handeln, sondern – im Sinne der konsequenzorientierten Ethik – auf die möglichen Ergebnisse schauen und ihre Wertmaßstäbe darauf beziehen. Dazu müssten sie die mutmaßlichen logischen Folgen einer verstärkten Zuwanderung mit den Bürgern diskutieren. „Das Boot ist voll“ auf der einen Seite und „Wir schaffen das“ auf der anderen wären zu dürftig und stellten eine Beleidigung des geistigen Niveaus der Wähler dar. Der Vorwurf des Populismus gilt aktuell für alle Seiten. Auch das Argument der „kulturellen Bereicherung“ ist nicht stichhaltig, denn Kultur stellt immer auch eine Spezialisierung und damit eine Verengung dar. Ein hohes Niveau kann nicht auf ganzer Breite durchgehalten werden. Siehe oben: Begrenzung der psychischen Kapazität.2 Die Auffüllung des Einwohnerverlustes, die Gewinnung von Fachkräften wären nachvollziehbare Argumente. Dem steht allerdings die mögliche Entstehung von Parallelgesellschaften und das Zurückdrehen der Errungenschaften der historischen Epoche der Aufklärung entgegen.
Doch die argumentative Diskussion in den öffentlichen Medien ist dürftig. Man setzt weniger auf kognitive denn auf unreflektiert-emotionale Empathie. Dafür spricht der Einsatz fast aller Mittel der Massenwerbung. Dabei vernachlässigt man, dass ein Zuviel an Berichten auch das Gegenteil, eine Ermüdung bewirken kann. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn sich viele Wähler abwenden und alternativ abstimmen. Es steht im Raum, dass dies weniger aus Fremdenhass als aus der Ablehnung dieser Art von Gängelung durch die Politik geschieht. Dabei hat es den Anschein, dass sich die politische Klasse in Deutschland schon selbst als „Parallelgesellschaft“ gebährdet, die wenig mit der Masse der einfachen Leute zu tun hat.
Was also wären die politischen Schlussfolgerungen?
(1) Politik muss erklären, welche Prinzipien ihrer Flüchtlingspolitik zu Grunde liegen. Wenn es um die Reinwaschung von der Nazischuld geht3, so soll man dies sagen. Es ist zu vermuten, dass zum Beispiel angelsächsische Politiker und Medien, wären sie selbst betroffen, mit einer solchen Argumentation keine Probleme hätten.
(2) Die Diskussion um die Zuwanderung muss nicht nur ethisch, sondern auch funktional geführt werden. Was passiert, wenn wir den Menschenstrom ungebremst hereinlassen? Was passiert, wenn wir es nicht tun? Warum fliehen sie überhaupt? Was sind die Ursachen in den Quellenländern? Lassen sie sich dort bekämpfen? Oder sind wir in Europa nur die Ausputzer für desaströse Zustände, die von mächtigen Interessengruppen geschaffen und immer weiter verschlimmert werden? Müsste nicht an diesem Punkt angesetzt werden?
(3) Der Mensch ist vom Grundsatz her eher sozial eingestellt. Das gilt primär für die eigene Gruppe, lässt sich aber auf ganz Europa und darüber hinaus auf die Weltgemeinschaft ausweiten. Niemand wird widersprechen, wenn der Weltfrieden verwirklicht wird. Entscheidend ist das Primat der demokratischen Politik vor dem Wirtschaftssektor. In dieser Hinsicht ist die europäische Einigung voranzutreiben und eine neue Wirtschaftsordnung – europa- und weltweit – durchzusetzen. Gorbatschofs „Glasnost und Perestroika“ sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
(4) Die menschliche Vernunft ist wegen ihrer Erfolglosigkeit in Verruf geraten. Dennoch ist sie das einzige Prinzip, dem alle zustimmen können und das Wohlstand für alle hervorbringen könnte.
(5) Für das Thema der Empathie bedeutet das, dass wir sie aus dem wissenschaftlichen Nischendasein herausholen und ihre umfassende Bedeutung für jedweden Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozess erkennen. Es bedeutet weiter, dass der Schwerpunkt in der politischen Diskussion mehr auf die kognitive Variante gelegt wird, dass also darauf verzichtet wird, „auf die Tränendrüsen zu drücken“ oder „den Gegner zu verteufeln“. Starre Grundsätze sind Totschlag-Argumente. Und dass die Bereitschaft der Menschen, ihr Herz zu öffnen, nicht für unerklärte politische Ziele ausgenutzt wird.
Zweifellos ist die Flüchtlingssituation – ebenso wie das Problem des weltweiten Hungers, der mangelnden medizinischen Versorgung, der unzureichenden Bildung, der korrupten Klemptokratien – ein menschliches Desaster, egal, nach welchen Maßstäben man es bemisst. Wir müssen helfen, so gut wir können, wenn wir mit uns selbst in Frieden leben wollen. Aber wir sollten uns dabei nicht selbst unsere Basis abgraben und Herr der Sache bleiben. Mit Macht die (auch personellen) Ursachen auf Basis der Europäischen Einigung zu bekämpfen halte ich für den besten Ansatz.
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1 nicht mit dem Wort „emphatisch“ verwechseln → „nachdrücklich“
2 Dementsprechend ist auch der Kulturbegriff in den letzten Jahrzehnten stark vulgarisiert worden; er bedeutet heute oft nicht viel mehr als „Gewohnheit“, „Routine“.
3 Dies halte ich nur graduell für möglich.
Wir haben es schon oft erlebt: Eine Auseinandersetzung beginnt sachlich und wird dann immer persönlicher, die Stimmung immer gereizter, bis die Argumente in Beleidigungen ausarten und vom eigentlichen Thema nicht mehr die Rede ist. Was ist passiert?
Der Philosoph Hegel glaubte vor knapp 200 Jahren, dass die Gegensätze weniger in den Kontrahenten, sondern in der Sache selbst liegen. „Alles, was irgend ist, das ist ein Konkretes, somit in sich selbst Unterschiedenes und Entgegengesetztes. … Was überhaupt die Welt bewegt, das ist der Widerspruch…“1 Allgemein bekannt ist seine „Dialektische Triade“ aus These, Antithese und Synthese.
Eine gewagte Theorie, die bis heute viele Denker fasziniert, aber auch Widerspruch (!) hervorgerufen hat. Schopenhauer sprach abfällig von „Hegelei“, die angelsächsischen Philosophen wandten sich von den „kontinentalen“ ab und verfolgten ihre „Analytical Philosophy“ weiter. Letztlich beinhaltet Hegels Philosophie die Erlaubnis zu unlogischem Denken, das aber letztlich an der Wirklichkeit scheitert. Eine Aussage kann nicht zugleich wahr und nicht wahr sein.
Hegels Dialektik funktioniert nur einigermaßen in Situationen wie oben beschrieben, also im Streitgespräch. Doch das Beispiel zeigt, dass es häufig nicht nur um die Sache geht, sondern ganz andere Beweggründe eine Rolle spielen. Diese Zusammenhänge erforschen u.a. die Kommunikationswissenschaften, aber auch andere Fächer und nicht zuletzt die vergleichende Verhaltensforschung. Denn Kommunikation gibt es unzweifelhaft auch im Tierreich, und die Parallelen zum menschlichen Verhalten sind offensichtlich. Sprache im menschlichen Sinne ist hier nur rudimentär vorhanden – umso wichtiger sind Gesten und die Deutung des sonstigen Verhaltens des Gegenübers.
Was sagen die Kommunikationswissenschaften? Nach einer aktuellen Theorie kann man Kommunikation unter vier Aspekten betrachten: Sachinhalt, Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell“. Danach geht es in einem Gespräch zum einen um die Sache (also zum Beispiel um „virtuelle Reviere“); zum zweiten offenbart der Sprecher seine Position (ist er kompetent? Vertritt er eher die Positionen der Soziologie oder der Biologie?); drittens macht er durch sein Verhalten deutlich, wie er zu dem Gesprächspartner steht (ob er sich zum Beispiel für überlegen hält); viertens lässt er erkennen, zu was er den anderen bewegen möchte (etwa die aufgestellte Behauptung zu glauben und danach zu verfahren). Dieses Vier-Seiten-Modell, das von Friedemann Schulz von Thun 1981 aufgestellt wurde, ist sehr pragmatisch, ließe sich sogar auf höher entwickelte Tiere anwenden und hat darüber hinaus den Vorteil, dass es ohne eine Vorstellung von der zu Grunde liegenden Struktur der Akteure auskommt.
Doch das eingangs erwähnte Beispiel lässt sich damit nur unvollständig fassen, denn hier kommt etwas Zusätzliches ins Spiel: Die Aggression. Sie sprengt unsere prototypische Vorstellung von einem Gespräch und zeigt auf, dass Kommunikation weit darüber hinausgehen kann. Sie kann auch durch reines, wortloses Verhalten erfolgen. Schweigen ist auch eine Botschaft. Damit ist nun eine weitere Wissenschaft, die Vergleichende Verhaltensforschung, angesprochen. Sie wurde von Konrad Lorenz begründet und befasst sich mit Verhalten von Tieren, zum Beispiel von Menschenaffen, und dem Vergleich mit dem Menschen. Hier sind vor allem Arten interessant, die wie die Menschen in Gruppen leben, was eine stetige Verständigung untereinander erforderlich macht. Denn das ist ja der Witz bei der Gruppe: Durch koordiniertes Handeln verschafft sie sich einen Vorteil gegenüber solitär lebenden Individuen. Doch wie geschieht das ohne Sprache? Die Erklärung ist einfach: durch Lautäußerungen, allgemein verständliche Gesten, durch Freundschafts- und Feindschaftshandlungen wie Lausen, in den Arm nehmen, Balzen, Aufplustern, Drohen. Man sagt die Dinge nicht, man bedeutet oder zeigt sie.
Vergleicht man dieses Tierverhalten nun mit dem Menschen, so fällt die Ähnlichkeit ins Auge. Zwar laust man sich nicht (man hat ja auch kein Fell), aber man küsst sich, nimmt sich in den Arm, tröstet sich, plustert sich auf, droht und baggert Geschlechtspartner an. Die Managerwelt hat, halb scherzhaft, einige dieser Sichtweisen übernommen: dort spricht man von „Manager-Gen“, „Killer-Instinkt“, „Alpha-Männchen“.
Wenn das so ist, dass unsere eigene Natur, unsere archaische Instinktausstattung einen Großteil einer Auseinandersetzung bestimmt, dann erhebt sich die Frage: Wie wichtig ist eigentlich der sachliche Gegenstand des Gesprächs? Ist er vielleicht nur ein Vorwand für ein längst fälliges Kräftemessen? Dann wäre die Frage nach den Zielen des „Kampfes“ und den Mitteln, die wir dabei einsetzen, interessant. Wenn wir uns die Mühe machen, die Literatur über Kommunikation und Verhalten – Mensch und Tier einschließend – zu durchforsten, kommen wir etwa auf folgende Beweggründe:
(1) Herstellung oder Verteidigung eines örtlichen Besitzes (z.B. Revier)
(2) Herstellung oder Verteidigung eines Ranges in der Gemeinschaft
(3) Durchsetzung bei der Konkurrenz um einen Sexualpartner
(4) Durchsetzung gegenüber Nahrungskonkurrenten
(5) Abwehr von Freßfeinden
(6) Beistand für andere
(7) Machtausübung für andere
(8) Vergeltung für erlittene Niederlagen
(9) Neurotisch/psychotische Formen, z.B. Objektverschiebung, Abfuhr innerer Spannung, Sadismus
(10) Selbstüberhöhung, z.B. Imponiergehabe wie Prunken/Protzen, Aufplustern, Stolzieren.
Diese Verhaltensweisen gehen bei Mensch und Tier mit zahlreichen bestätigenden Gesten einher (z.B. drohende Mimik, gesträubte Nackenhaare, peitschender Schwanz), sodass in der Regel erkannt werden kann, ob die vermeintliche Aggression absichtlich oder aus Versehen stattfindet. Hunde erkennen zum Beispiel recht gut, ob ein Artgenosse (oder ihr Frauchen/Herrchen) sie willentlich foult oder zufällig anrempelt. Auf diese Weise lässt sich auch spielerische Aggression von ernstgemeinter unterscheiden. Die Absicht ist somit ein wesentlicher Faktor der Aggression; ein völlig empathieloses Wesen – wie man sich z.B. bedrohliche Aliens vorstellt – wäre demnach nicht aggressiv bzw. so aggressiv wie eine Kuh, die beim Grasen versehentlich eine Schnecke verspeist.
All diese Verhaltensmuster lassen sich recht gut auf Menschen anwenden. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns die Sprache und das abstrakte Denken wegdenken würden, wäre das, was bleibt, dem Verhalten z.B. von Schimpansen sehr ähnlich. Vielleicht vergleichsweise etwas verkümmert, weil wir ja auf die Sprache zurückgreifen können. Wir sollten uns bei der Betrachtung des Menschen immer auch fragen, wie sich das Problem bei einem höheren Tier darstellt – und überlegen, ob darin auch nicht die Erklärung für unser Verhalten liegt. Einen solchen „integrierten Ansatz“ der Anthropologie verfolgen aktuell zum Beispiel Frans de Waal2 und Thomas Suddendorf3
Wenn bisher der Eindruck entstanden ist, ich wolle Mensch und Tier gleichsetzen, so muss ich das dementieren. Ich meine nur, dass wir ähnlicher sind, als wir zuweilen wahrhaben wollen. Und möchte hinzufügen: Das ist sehr beruhigend. Denn die Bestie in uns ist der Mensch, nicht das Tier. Der Holokaust ist aus Theorien entstanden, beginnend bei Darwin und dann ganz Europa überspannend – weniger aus genetisch oder epigenetisch angelegtem Verhalten. Doch dieses kann der Mensch in weit höherem Maße als Tiere überformen oder ganz und gar umkehren – bis hin zu seinem Freitod. Insofern sollte man m.E. auch allen Umerziehungsversuchen, die aktuell von Politik und Medien ausgehen, wegen ihrer Theorielastigkeit mit großer Vorsicht begegnen.
Diese geistige Ebene, die uns von den Tieren unterscheidet, in der wir mit Begriffen und Vorstellungen logisch operieren und schlussfolgern können, in der wir per Fantasie zukünftige und vergangene Abläufe simulieren, in der wir die Fremdperspektive einnehmen und uns von außen, quasi als Alien, betrachten und vergleichen können, in der wir uns selbst bewusst sind und Kultur schaffen – in diese Ebene fließen unsere archaisch-instinktiven Verhaltensmuster nicht nur in sublimierter, also kultivierter Form à la Freud ein, sondern auch ganz direkt. Wir protzen mit unserem Besitz, wir verteidigen ihn, wir wollen Angehörigen des anderen Geschlechts imponieren, wir schüchtern Gegner ein, wir geben Zeichen, dass wir gleich aus der Haut fahren werden, wir schlagen im Ernstfall zu. Hier muss noch einmal klargestellt werden, dass ich hier nur den aggressiven Streitfall betrachte. Natürlich gibt es auch die Situation – und die ist vermutlich wesentlich häufiger – des Einvernehmens, des Abfindens mit der Macht, der Hilfeleistung (z.B. gegenüber Kindern). Der Fokus wurde auf diese Art der Auseinandersetzung gelegt, weil es ja um den Widerspruch geht – bei Hegel, in den Dingen und im Dialog.
Wenn sich in unserer geistigen Sphäre die reale Welt spiegelt – und wenn wir darin derartig aktiv sind, als würden wir uns in der Wirklichkeit befinden – dann werden wir auch mit abstrakten Mitteln um abstrakte Positionen kämpfen, als ginge es um ein konkretes Revier oder um eine gruppenspezifische Rangordnung. Das nicht konkrete – also „virtuelle“ – Revier ist dabei besonders faszinierend, weil, einmal gedacht, man es überall wiederfinden kann.
Zunächst einmal hält die menschliche Gesellschaft eine Menge vorgeformter „Reviere“ bereit oder erkennt sie an: Berufe, Funktionen, Sachgebiete, geistige und körperliche Fähigkeiten. Es sind Metiers oder auch Kompetenzbereiche. In allen kann man Experte bzw. Expertin werden, quasi wie ein König oder eine Königin über ein kleines Reich von Wissen und Fähigkeiten herrschen. Ein Reich, das man sich ungern von anderen streitig machen lässt. Denn das könnte sich – wie im Tierreich – karriereschädlich auswirken. Wenn es aber nicht gelingt, Herrscher im eigenen Reich zu werden, weil z.B. Mächtigere da sind, die einem nur ein unbedeutendes Plätzchen unter sich gönnen, dann hat man als Mensch die Möglichkeit, sich ein völlig neues Revier herbeizudefinieren. Man wird Experte für Starwars, in einem Computerspiel, züchtet eine neue Sorte Gänseblümchen, wird Hobbyhistoriker für die nähere Umgebung, erfindet ein neues Gerät, wird esoterischer Heiler oder Heilerin. Der Witz bei der Sache ist der Überraschungseffekt: Bevor die anderen etwas merken, hat man schon seinen Platz befestigt, sich mit den Waffen des Wissens und der Argumente versorgt und bei Bewunderern Anerkennung erworben. Und man genießt den Vorteil, dass andere wahrscheinlich ein geringes Interesse zeigen, einem das Terrain abzujagen. Dabei ist man sich kaum bewusst, dass das Ganze nur zum kleinen Teil die Folge einer glänzenden Idee oder zufälligen Wissens ist, hingegen zum größeren Teil unbewusst durch unsere Instinkte gesteuert wird.
Einen möglichen Nutzen des Konzepts der kreativen virtuellen Reviere sehe ich zum Beispiel in der therapeutischen Anwendung: Problematische, z.B. gehandicapte Personen, die in der konventionellen Welt nur geringe Chancen haben, können sich hier einen Bereich positiver Rückmeldung schaffen. Man denke z.B. an die Resozialisierung straffällig Gewordener oder Unterprivilegierter durch Sport oder Musik.
Nun ist das Reviermodell nur ein grobes Schema, das auch in der freien Natur meist nicht in reiner Form vorkommt (1 Individuum in 1 Revier). Zudem kann die Struktur einer Population in Folge verschiedener Faktoren variieren. So geben etwa Buntbarsche, als revierbildende Tierfamilie bekannt, im Aquarium bei zu großer Fischdichte ihre Reviere auf und bilden eine Art Schwarm (oder eher ein Gewimmel), in dem es wesentlich friedlicher zugeht als zuvor. Der Aufwand, ein Revier zu verteidigen, lohnt sich nicht, wenn zuviele Individuen da sind, die es einfach ignorieren. So kann man auch beim Menschen alle Formen sozialer Strukturen beobachten. Als Beispiel sei die „Gefolgschaft“ genannt: Jemand identifiziert sich – freiwillig oder gezwungen – mit einer mächtigen Person und handelt in deren Sinne. Oder die Freundschaft: Jemand verteidigt einen anderen vor Gefahr. Die Paarbildung. Etc. etc.
Was will ich damit sagen? Zum einen, dass der archaische Unterbau mit seinen Instinkten beim Menschen eine viel größere Rolle spielt als allgemein angenommen. Und dass er in allen Teilen der Persönlichkeit – ICH, ÜBERICH, ES – unbewusst auf uns einwirkt. Und das ist gut so.
Zum anderen, dass es sich bei der Dialektik nach Helgel, später auch Marx, um die Widerspiegelung unsereres eigenen, oft aggressiven Verhaltens handelt. Denn ein Widerspruch ist prinzipiell ein Ausdruck von Aggressivität. Er liegt nicht in den Dingen und bewegt nicht die Welt, sondern wir sind es, die den Objekten unterschiedliche Bedeutungen beimessen und uns gegenseitig widersprechen. Und damit auch die Entwicklung vorantreiben. Solange wir uns treu bleiben – zum Guten.
Uns geht es doch gut! Die Feststellung wäre harmlos, wäre da nicht das Wörtchen „doch“. Es ist verräterisch, lässt eine kleine Unsicherheit mitschwingen. Sicher, materiell geht es den meisten Menschen in Deutschland so gut wie nie. Die Wirtschaft brummt, die Steuereinnahmen wuchern, ständig überschwemmen neue Produkte die Märkte und finden Eingang in unser Leben. Aber auch die Kulturszene blüht, sowohl die hohe Kunst als auch zahllose regionale Initiativen, die zur kreativen Betätigung einladen. Das alles ist begrüßenswert.
Doch sei es, dass unsere Sensibilität zugenommen hat, sei es, dass der Zustand der Welt sich tatsächlich immer kritischer entwickelt – das Gefühl einer allgemeinen Ungewissheit wächst. Meist dumpf nur, weil verdrängt, aber immer häufiger auch benannt. Politik und Medien bieten dabei ein unglückliches Bild – ihre Deutungen sind oft widersprüchlich oder geradezu unvereinbar. Dabei hilft es wenig, wenn auf die Subjektivität aller Wahrnehmung hingewiesen wird und Tatsachen zuweilen als „gefühlte Fakten“ präsentiert werden. Schnell stellt sich der Eindruck ein, hier solle einem etwas untergejubelt werden.
Nun hat es dies aber immer schon gegeben. „Man soll nicht alles glauben, was man hört“, sagte schon Cicero im alten Rom. Auch im Nachkriegsdeutschland wurde – wie überall auf der Welt – selektiv berichtet, teils aus Tradition, teils aus Absicht, und auch damals gab es Kritik an den Medien. Hat sich also im Grunde wenig verändert? Oder stehen hinter den diffusen Wahrnehmungen in Wirklichkeit tiefgreifende, umwälzende Prozesse? Prozesse, die es gar gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer neuen, eigenständigen Epoche zu sprechen? Ich meine: ja.
- an der Meinungs-Maschinerie
(1) Die DIGITALISIERUNG verändert unser Leben grundlegend – unsere Wahrnehmung, unsere Kommunikation, unser privates und gesellschaftliches Zusammenleben, unsere Wirtschaft, nicht zuletzt auch unsere Waffentechnik. Dafür stehen u.a. das Handy, das Internet, die sozialen Medien, die Überwachung, die Industrierobotik, die 3‑D-Drucker, die EMP-Waffen. Immer mehr Apparate agieren autonom, also ohne menschliches Zutun. Das selbstfahrende Auto parkt schon vor der Türe, der autonome Staubsauger putzt unermüdlich, sein Crosscountry-Bruder stutzt den Rasen. Die Androiden werden immer intelligenter und spielen Schach oder Fußball. Der Trend geht dahin, dass die Maschinen auch miteinander selbständig agieren, Internet 4.0 bzw. Industrie 4.0 heißt das Nahziel. Am Ende steht die vollautomatische Fabrik, die Erledigung der individuell-praktischen Arbeit durch Androiden, der vollautomatische Krieg. Dieses Konstrukt ist so störungsanfällig, dass es einer ständigen und lückenlosen Überwachung durch Big Brother bedarf. Das alles sind Dinge, die das Potenzial haben, unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu sprengen.
(2) Im MAKRO-MOLEKULAREN BEREICH tut sich Ähnliches. Die Gentechnik greift tief in die Natur ein, verändert Lebewesen, macht schwere Leiden und Missbildungen heilbar, „optimiert“ Land- und Forstwirtschaft und damit unsere Ernährung. Biotechnologie züchtet Organe in der Petrischale und setzt Mikroben auf breiter Front für industrielle Fertigungsprozesse und ökologische Steuerung ein. Nanotechnologie produziert Maschinen in Molekülgröße, deren Einsatzmöglichkeiten in der Medizin und Industrieproduktion schier unendlich erscheinen, sowie neue Materialien und Produkteigenschaften. Genehmigungsbehörden und Ethikkommissionen versuchen, diese Entwicklung in einem ethisch und ökologisch vertretbaren Rahmen zu halten, doch die Welt ist voller Schlupflöcher und die Forschung der Reglementierung a priori immer einen Schritt voraus.
(3) In Folge dieser Entwicklungen unterliegen wir einer WESENSVERÄNDERUNG. Die neuen Technologien, insbesondere diejenigen der Kommunikation, ziehen uns in ihren Bann und drücken uns ihre Strukturen und Routinen ins Gehirn. Wir wollen ständig online sein, global präsent, umfassend informiert, digital souverän – und werden inmitten der einseitigen Reizüberflutung doch auf uns selbst zurückgeworfen. Denn es fehlen die Außenreize, die Sinneseindrücke, die Störungen, das Angesprochen werden, das körperliche Reagierenmüssen, das Deuten von Mimik und Gesten, das Lesen zwischen den Zeilen. Dazu kommt, dass wir uns vor der Elektronik nicht verstellen müssen – der Computer interessiert sich nicht für unsere Neurosen und Komplexe. Das ist befreiend und ein Suchtfaktor. Aus dieser unmerklichen Metamorphose gehen wir als „Nerds“ hervor, als Zwitterwesen zwischen Computerfreak und Autist. Einerseits haben wir die größte Fülle an Information, die einzelne Menschen je hatten; andererseits sind wir immer weniger in der Lage, das Dargebotene zu deuten und zu bewerten. Aus diesem Mangel heraus neigen wir zu moralisierenden statt funktionalen Schlüssen, zu emotionalen statt empfindsamen Gefühlsäußerungen. Aus seelischer Verödung heraus verhalten wir uns schablonenhaft und folgen scheinbar gesicherten Marken und Parolen.
(4) Nahezu komplementär zum Nerdismus hat sich die MEINUNGS-MASCHINERIE entwickelt. Mit dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus – marktiert letztlich durch den Mauerfall – hat in der westlichen Welt kaum merklich ein Paradigmenwechsel der Meinungs- und Medienwelt stattgefunden; ein neuer Zeitgeist betrat die Bühne, der eine andere Sprache spricht als sein Vorgänger und nur schwer zu fassen ist. Zwar hatte es derartige Erscheinungen auch schon vorher gegeben, doch erreichen sie nun eine neue, systematische Qualität. War man beispielsweise früher aufgefordert, seinen Ärger zu äußern und Konflikte auszutragen, so gelten nun die Toleranz und Höflichkeit als höchste Norm. Kritische Einstellung wird durch „Akzeptanz“ ersetzt und Verweigerung, einst essentiell für die Persönlichkeitsentwicklung („man muss auch nein sagen können!“), durch Konformismus. Neuer Moralismus gipfelt in der ständigen Warnung vor Nazitum, Rassismus und Spaltung der Gesellschaft. Dem „gesellschaftlichen Diskurs“ wird plötzlich Vorrang eingeräumt vor der Macht der Verhältnisse; daraus erwächst der Hang, das Verhalten der Menschen mittels Sprache zu steuern: „Politische Korrektness“ heißt jetzt die Parole. (Beispiele sind die politisch motivierten „Wörter/Unwörter des Jahres“.) Der Realitätsbegriff wird generell in Zweifel gezogen; man spricht statt dessen von „Erzählungen“. – Die Liste könnte noch eine Weile fortgesetzt werden, zum Beispiel um Traditions- und Tabubruch, Multikulturalismus und Globalismus. Sie ist umso bedenklicher, als ihr der neue Wesenstyp des analog entwurzelten Nerds wie gerufen entgegenkommt.
Die oben aufgeführten vier Punkte wären, jeder für sich genommen, sicher noch kein Anlass, von einer neuen Epoche zu sprechen. Es ist die Wucht, mit der diese Prozesse durchstarten und gegenseitig antreiben, und es ist die vielfache Grenzüberschreitung, die sie dabei begehen, die einen neuen Begriff fordern. Die Veränderung hat m.E. begonnen, als die Berliner Mauer fiel und das Internet seinen Siegeszug antrat.
Doch wie könnte man diese neue Zeit, die unsere Gegenwart ist, benennen? Verschiedene Begriffe sind bereits im Gespräch, wie „Gegenmoderne“, „Supermoderne“, „Hypermoderne“, „Metamoderne“, „Altermoderne“, „Zweite Moderne“, „Weltmoderne“, „Turbomoderne“. Die Vielfalt der Vorschläge macht deutlich, wie dringlich vielen Autoren die Namensgebung erscheint.
Ich möchte mich dem Begriff „Hypermoderne“ anschließen. Das Präfix „Hyper“ taucht aktuell schon zur Kennzeichnung von partiellen Entwicklungen in derartig vielen Publikationen auf („Hyper-Moral“, „Hyper-Vernetzung“, „Hyper-Personalisierung“, „Hyper-Historie“ etc.), dass man schlechterdings kaum noch daran vorbeikommt. Seine Bedeutung dieses aus dem Altgriechischen stammenden Wortteils ist laut Duden „über, übermäßig groß, übertrieben“. Wiktionary fügt noch „mehr als richtig, gut oder normal“ hinzu. Hypertonie ist ein Blutdruck „über der Norm“, ein Druck, der auf die Dauer schadet. So verstehe ich auch die Hypermoderne. Sie verlängert blind die bisherigen Entwicklungstrends, ohne zu berücksichtigen, dass eine neue Qualitätsstufe erreicht wurde, die entsprechende Anstrengungen zu ihrer Steuerung nötig macht. Pointiert formuliert: Wir sehen ruhig zu, wie unsere Ideale von Freiheit, Aufklärung und Demokratie an Kraft verlieren, während unterschwellig ein robuster, technologie- und kapitalgesteuerter Prozess weiter Fahrt aufnimmt.
Wie der Begriff „Hypermoderne“ andeutet, handelt es sich immer noch um eine Form der Moderne. Diese Ära mit ihren Heilsversprechen – kurz: mehr Wohlstand durch mehr Technik und mehr Freiheit – wurde durch die „Postmoderne“ nur zum Schein und nur im geistigen Bereich abgelöst. In Wirklichkeit dauerte und dauert sie an und wird es weiter tun, solange die Produktivkräfte durch den Kapitalismus angefeuert und zu neuen Ufern getrieben werden. Denn die Postmoderne mit ihrer grundsätzlichen Infragestellung der Moderne ist selbst inhaltslos, kann keine eigenen Triebkräfte entfalten. Ihr einziges Mantra ist die bunte Vermischung des Vorhandenen, was die Menschen letztlich entwurzelt. Damit bereitet sie den Boden für die Hypermoderne und die bereits diffus sichtbare Folge-Ära: den Transhumanismus.
Bei letzterem, dem Transhumanismus, der Welt jenseits des Menschlichen, für ihre Anhänger ein grandioser Zukunftsentwurf voller ungeahnter Möglichkeiten, handelt es sich in meinen Augen um eine Wahnidee, die nur schiefgehen kann. Den Menschen durch biotechnische Mittel zu optimieren (im Sinne höherer Leistungsfähigkeit) wird sein irdisches Glück kaum vergrößern, sondern nur die allgemeine Konkurrenz auf ein höheres Game-Level hochzonen. Ganz zu schweigen von der Vorstellung, die Maschinen bis zur völligen Autonomie weiter zu entwickeln. Verlierer werden die „Nichtoptimierten“ sein, die sich das alles nicht leisten können. Die jetzige Ära, die Hypermoderne, bildet so gesehen die Brücke zum Transhumanismus. Das ist das Fatale (im wahrsten Sinne des Wortes: Schicksalhafte) an ihr.
Eins bleibt noch anzumerken: Dem Wort „Hypermoderne” haftet ein gewisser Makel an. Es beschreibt nur das Geschehen, nicht das Erwünschte – im Gegensatz zur Moderne mit ihren Heilsversprechen. Insofern kann es kaum als Parole für ein zukunftsträchtiges Engagement dienen. Worin könnte dies bestehen?
Es kann nicht darum gehen, die Moderne abzuschaffen. Dies widerspricht dem Typischen des Homo Sapiens, nämlich seiner Innovationskraft. Wichtig erscheint vielmehr, alle Anstrengungen zu unternehmen, den immer schneller fahrenden Zug abzubremsen und auf ein anderes Gleis zu heben. Dieses muss von einem neuen Humanismus geprägt sein, einem Humanismus, der angesichts der bereits eingetretenen Entwicklungen und Erkenntnisse über den Menschen neu definiert werden muss. Als oberste Grundsätze werden gesehen:
Ein Wort für diese posititv-willentlich gestaltete Zeitspanne wird dringend gebraucht. Denn vor uns gabelt sich der Weg. Wir haben die Wahl
- zwischen einer humanen Welt, die dem Spruch des Philosophen Russel folgt1:
1 Bertrand Russel, Warum ich kein Christ bin, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 64